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Das unsichtbare Volk

Das unsichtbare Volk

Titel: Das unsichtbare Volk
Autoren: Diethelm Kaminski
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der
Rührung und Ergriffenheit. Ich ertappe mich dabei, dass auch ich nach einem
Taschentuch in meinen Manteltaschen grabe, finde aber keins, sodass meine
Tränen ungehindert meine Wangen hinunterrollen. Hilfreiche Hände reichen mir
Taschentücher zu, die ich dankbar annehme. Die Glocken verstummen, die Menschen
erwachen aus der Trance und zerstreuen sich. Auch ich setze meinen Weg fort, um
meinen Banktermin nicht zu verpassen.
    Ein paar
Monate danach bin ich wieder in der Hauptstadt, in der gleichen demütigenden
Rolle als Bittsteller.
    Wieder führt
mich mein Weg gegen Mittag über den Platz vor der Kathedrale. Es nieselt. Die
Glocken beginnen zu läuten. Anders als das vorige Mal. Eindringlicher,
schriller, drohender. Die Menschen werfen sich auf den nassen Boden, senken
willenlos die Köpfe und verharren in dieser Position, bis die Glocken
verklungen sind. Auch ich erhebe mich, streiche ein paar Mal über meinen
beschmutzten Mantel und begehe mich dann auf den unvermeidlichen Gang nach Canossa.
    In diesem Jahr
habe ich keinen Banktermin mehr, aber im Frühjahr bleibt mir ein erneuter Kotau
nicht erspart. Schulden und Zinsen wachsen mit jedem Besuch, aber einen Ausweg
gibt es für mich nicht.
    Ich habe es so
eingerichtet, dass ich gegen zwölf auf dem Platz vor der Kathedrale bin.
    Die Glocken
geben einen sirrenden Sirenenton von sich. Ohne jede Variation. Der Ton geht
durch Mark und Bein. Die Menschen werfen sich mit dem ersten Ton zu Boden und
kriechen auf Händen und Knien auf den Haupteingang der Kathedrale zu. Ich bin,
weil ich den Platz erst wenige Minuten vor zwölf erreicht habe, unter den
Letzten in dem dichten sich vorwärts wälzenden Menschenstrom.
    Ich hebe
vorsichtig den Kopf, um zu sehen, wie weit es noch bis zum Eingangsportal ist.
Jetzt erst bemerke ich das Transparent, das über die ganze Breite des
Hauptturms gespannt ist:
    „Die
Nationalbank dankt Ihnen für Ihr Vertrauen. WIR sind Ihre Rettung.“

Wer hat Angst vor Daisy Duck?
     
     
     
    Daisy Duck hat zeitlebens unter ihrem
Namen gelitten. Der Name Daisy macht sie klein. Ein unscheinbares Blümchen,
eins unter Tausenden, von niemandem beachtet, von allen getreten. Und dann auch
noch Duck als Nachnamen! Für Engländer und Amerikaner eine verächtliche
Bezeichnung für eine Frau, da kann sie noch so stark und selbstbewusst
auftreten, für Deutsche ein weiterer Beweis der Bedeutungslosigkeit und des
Duckmäusertums. Daisy, duck dich. Tauch ab. Muck dich nicht.
    Daisy denkt
nicht daran. Sie muckt sich doch. Und wie. Jetzt erst recht. Sie taucht nicht
unter. Sie will es allen zeigen, kündigt sich großspurig an, wirft sich mächtig
in die Brust, macht dunkle schicksalsschwangere Andeutungen, als rufe sie den
Anbruch des Jüngsten Gerichts aus, spielt die Femme fatale. Sie droht damit,
mächtig aufzuräumen mit allen, die sie nicht ernst genommen haben. Sie sollen
spüren, wozu Daisy fähig und in der Lage ist.
    Daisy hat sich
gründlich vorbereitet auf ihren großen Auftritt. Sie hat am Mittelmeer geübt:
Krafttraining, Kampfsporttechniken, Blitzangriffe. Jetzt fühlt sie sich stark
genug, an einem einzigen Wochenende, vielleicht sogar an einem einzigen Tag
über ihre Feinde, ihre Zweifler, ihre Spötter herzufallen und sie das Fürchten
zu lehren. Daisy malt sich aus, wie sie sich in Panik in ihre Löcher
verkriechen und um ihr Leben zittern, wie sie zagen und zittern, beten und
betteln, Daisy möge sie verschonen.
    Die lange
Anreise ist kräftezehrender, als Daisy es sich gedacht hat. Schnell geht ihr
die Luft aus. Ihr wird bewusst, dass sie sich zu viel zugetraut hat, dass Wut
und Rachegelüste, Zurücksetzung und Hass sie aufgebläht haben. Nichts als heiße
Luft. Ihre Muskeln erschlaffen kurz hinter den Alpen. So kann sie ihre Feinde
nicht beeindrucken. Die sind nicht auf den Kopf gefallen. Sie haben schnell
kapiert, dass Daisy geblufft hat. Welche Blamage für Daisy. Jetzt wird alles
noch schlimmer. Von nun an wird man sie noch weniger ernst nehmen als zuvor.
Man wird sie weiter verspotten und auf ihr herumtrampeln. Daisy Ducks
künstliches Selbstbewusstsein bricht kläglich in sich zusammen. Wie sie sich
klein macht, sich krümmt und duckt, damit sie nicht zertreten wird. Eine Femme
fatale? Eine Presse-Ente – lahm und schal!

Drei Wege
     
     
     
    Obwohl König Nabur der Fünfte von
Naburistan voraussichtlich noch mindestens dreißig Jahre zu leben hatte, wollte
er die Thronfolge rechtzeitig geregelt wissen. Eine gesetzlich
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