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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute
Autoren: Christian Mähr
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ganzen Nachmittag wie ein Mantra vorbetete: Wenn ich jetzt versage, habe ich keine Zukunft mehr. Wenn ich jetzt versage … natürlich im Stillen, von außen war ihm nichts anzumerken, außer, dass er oft lachte. Wenn jemand etwas sagte, was nicht einmal witzig war, oder wenn er selber etwas von sich gab (genauso wenig witzig). Ausnahmslosalle Anwesenden schoben es auf seine Nervosität und diese auf den verrückten Plan, die ganze Straße in ein geschummeltes Hundertdreißig-Quadratmeter-Haus einzuladen (geschummelt nicht das Haus, sondern die hundertdreißig Quadratmeter, in Wahrheit waren es knapp hundertvierzig). Wo sollten die alle sitzen? Von sitzen konnte dann, wie sich herausstellte, keine Rede sein, die meisten Leute standen; obwohl nicht alle gekommen waren, die Hildegard eingeladen hatte, standen die meisten den Großteil jenes bemerkenswerten Abends – aber ebenso muss man zugeben, dass dies nicht als Mangel empfunden wurde. Man kreiste durch alle Räume des kleinen Hauses, Gesprächsgruppen, wie sie sich auf solchen Partys bilden, kamen einander in diesem Fall so nahe, dass sie sich öffneten, ineinander übergingen, neu formierten. Kurz: Es war brechend voll, und es herrschte Bombenstimmung. Hildegard hatte angeraten, zur großzügig berechneten Fressalien-Bestellmenge noch einmal zwanzig Prozent aufzuschlagen. Weil dann auch nicht alle kamen, mit denen die beiden gerechnet hatten, führte die Zwanzig-Prozent-Maßnahme zu einer so opulenten Pro-Kopf-Quote, dass nicht einmal jene, die zu Hause nichts gegessen hatten (die große Mehrheit), die Chance hatten, alles aufzuessen, was ihnen statistisch zustand. Mit den Getränken verhielt es sich ähnlich. Das hatte sehr positive Auswirkungen auf das Gästeverhalten. Es wurde langsam gegessen, weniger und weniger schnell getrunken. Weil eh genug da war und weil jeder vermeiden wollte, sich zuzuschütten …
    Die Leute unterhielten sich blendend, sogar Dr. Nowak und Manfredo, der sein Talent als Partytiger ausleben konnte. Er redete mit allen, flirtete auch mit jenen Frauen, mit denen das seit Jahrzehnten keiner mehr getan hatte – ohne dabei die Ehemänner gegen sich aufzubringen. Schott musste zugeben: Manfredo war eine Nummer für sich, ein echter Gewinn fürjede Party, sogar für eine, die so gut lief wie die hier. Das beruhigte ihn.
    »Es muss voll werden«, hatte Hildegard gesagt. »Je voller es ist, desto weniger kann man hinterher sagen, wer da war und wer nicht.« Denn darauf kam es an. Dass keiner sagen konnte, wer da war und wer nicht.
    Es war laut. Schott spielte auf seiner Stereoanlage den ganzen Abend »leichte Klassik«, was manchen Gästen auf die Nerven ging, die Popmusik bevorzugt hätten. Angesichts des erlesenen Buffets akzeptierten sie aber die Musik, Schott hatte sie laut aufgedreht. Mit dem Effekt, dass jeder lauter sprach, weswegen die anderen Sprecher ebenfalls lauter sprechen mussten, das hob den Geräuschpegel. Ein hoher Geräuschpegel war wichtig für den Plan.
    Denn natürlich gab es einen Plan.
    Schott und Hildegard waren die Nachbarn gleichgültiger als die Krater auf der Rückseite des Mondes. Es ging nur darum, dass möglichst viele von ihnen anwesend waren. Zwei Punkte. Punkt eins: Keiner konnte bei einer so dichtgedrängten Menge beschwören, wer für eine kurze Zeit nicht da gewesen war. Punkt zwei: Wer da war, konnte zur gleichen Zeit nicht zu Hause sein. Das betraf zwei bestimmte Personen, die anderen feierten nur als Tarnung mit, freilich ohne von ihrer Tarnaufgabe zu wissen. Der Plan hatte allerdings einen Schönheitsfehler, der leider erst später zutage trat, als alles schon zu spät war: Auch die Gastgeber Hildegard und Schott konnten nicht für jeden Augenblick angeben, wer gerade nicht da war; in gewisser Weise widersprachen einander die Punkte eins und zwei. Dr. Nowak hätte den beiden aus seiner langjährigen Laborerfahrung heraus von ihrem Plan abgeraten. Denn wo gilt Murphys Gesetz mehr als bei solchen Vorhaben, die man mit einem saloppen »Wird schon schiefgehen« am besten charakterisiert? Genau – das tut es dann auch. Schiefgehen.
    Es war etwa Viertel vor zehn, als Romuald auf dem Handy angerufen wurde. Eine Frau. Bei dem Krach im Schott’schen Haus erkannte er die Stimme nicht, also trat er durch die Vordertür rasch ins Freie.
    »Wer spricht, bitte?
    »Marie Kaserer?«
    Sie war kaum zu verstehen, schien ziemlich betrunken zu sein.
    »Um Gottes willen, Frau Kaserer, wo sind Sie denn?«
    »Im Zug.
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