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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau
Autoren: Annette Hohberg
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der Via Ugo Bassi geschlossen waren. Ein Verkäufer dort hatte Martha vor ein paar Wochen gesagt, sie habe schöne Augen. Dabei hatte sie nur Eier gewollt. Als sie Michele davon erzählte, musste er lachen. Es war das erste Lachen seit jener Nacht.
    Vor der Bar
Gamberini
standen die Heizpilze eng zusammen. Irgendjemand hatte eine große Kette mit Vorhängeschloss darumgebunden. Am Tag würden die Gasbrenner wieder Wärme abgeben an die Leute, und die Kellner würden Aperitifs und belegte Sandwiches servieren. »Hier habe ich meinen ersten Cappuccino getrunken«, sagte Martha, »an meinem ersten Morgen in Bologna.« Es kam ihr vor, als sei das bereits Jahre her.
    Ansonsten gingen sie nicht mehr aus. Sie blieben zu Hause, oft blieben sie sogar im Bett.
    Irgendwann holte Michele sein Manuskript und begann, ihr vorzulesen. »Es ist zwar noch nicht fertig«, meinte er, »aber …«
    Sie wussten beide, was er dachte. Dass sie das Ende nicht mehr hören würde. Aber ihr gefiel der Anfang, und das sagte sie ihm auch. Daraufhin nahm er sie in den Arm, und sie schliefen miteinander. Und für Momente vergaßen sie alles.
    Michele sagte an diesen Tagen alle Termine ab. Er gab keine Yogastunden, bat Auftraggeber um Aufschub. Er blieb bei Martha. Über den Krebs sprachen sie nicht mehr; es war eine stille Übereinkunft, an die sich beide hielten. Stattdessen erzählten sie sich ihr Leben. Selbst Kleinigkeiten erschienen ihnen auf einmal wichtig. Dass Martha auf Reisen immer ihr Kopfkissen mitnahm und Michele ein Foto seiner Eltern. Sie würden nie mehr zusammen irgendwohin reisen, aber darum ging es nicht. Sie wussten, dass alles möglich gewesen wäre; nun blieb ihnen nur der Konjunktiv, aber dem verlangten sie noch mal alles ab.
    Es gab auch die Momente, in denen sich das Schweigen über sie legte. Meistens begann Michele dann, Dinge aufzuräumen. Er holte alte Kisten aus dem Keller, sortierte Fotos aus, warf Unterlagen weg, die in seinem Leben keine Rolle mehr spielten. Das Bad und die Küche putzte er öfter als nötig, selbst die Böden wischte er täglich, und eines Morgens nahm er sich sogar die großen Fenster vor. Er füllte das Schweigen, indem er den Eimer mit Wasser füllte. Martha wusste, dass er das tat, um nicht verrückt zu werden. Manchmal half sie ihm sogar ein bisschen, aber nach spätestens fünf Minuten bildeten sich Schweißtropfen auf ihrer Stirn, und sie musste sich hinlegen. Die Kräfte machten sich davon und hinterließen Mattigkeit. Statt Chemo hatte Liebe ihr Aufschub gewährt, doch es blieb eine Frage der Zeit, bis selbst die höchste Dosierung hier nichts mehr ausrichten konnte.
    Abends kochte Michele für sie beide. Er kochte gut und viel, und Martha aß mit Appetit. Der Appetit war ihr geblieben, er war sogar größer als früher.
    Sie verwendete viel Zeit darauf, sich schön zu machen, blieb lange im Bad, schminkte sich und suchte Kleider aus, von denen sie wusste, dass sie ihm gefielen.
    »Sag, dass das alles nicht wahr ist«, bat er sie, als sie eines Morgens beim Frühstück saßen.
    Sie goss ihm gerade Milch in seinen Kaffee, und sie goss so viel in die Tasse, dass die Milch über den Rand lief. Sie bemerkte es erst, als er ihr das Kännchen aus der Hand nahm und auf dem Tisch abstellte.
    Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es wirklich nur ein Traum«, entgegnete sie leise. »Du weißt ja, wie das ist, wenn man etwas ganz realistisch träumt, und dann wird man in der Früh wach und reibt sich die Augen und denkt – was war das jetzt?«
    »Du meinst also, wir gehen von einem Traum in den anderen?«
    »Könnte doch sein, dass nichts ist, wie es scheint.«
    »Und unsere Liebe?«
    Sie lächelte ihn an. »Die ist aus dem Stoff, von dem man sich wünscht, dieser Traum würde niemals enden.«
    Dann erzählte sie ihm von der Matrjoschka-Puppe, die ihr Vater ihr mal von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Sie liebte es, im Bauch der Puppe eine weitere Puppe zu finden und in deren Bauch wieder eine – eine schier unendliche Zahl von Puppen, bis zu einer winzigen Figur, gerade mal so groß wie ein Daumen. Ihre Mutter ermahnte sie abends immer, aufzuräumen und die Matrjoschkas ineinanderzustapeln. Doch manchmal kroch Martha wieder aus dem Bett, und dann stellte sie alle Püppchen auf der Fensterbank auf, der Größe nach, und ließ sie hinaussehen in die Nacht. Sie malte sich aus, dass auch in ihrem Bauch weitere Marthas wohnten, und irgendwann, wenn sie erwachsen wäre, würde sie alle
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