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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau
Autoren: Annette Hohberg
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miteinander versuchten, grenze an ein Wunder und sichere ihm sein Einkommen.
    Catherine lächelt in sich hinein, während sie Kartoffeln schält.
    Selbst Lina kann sich der Stimmung in dieser Küche nicht entziehen und riskiert hier und da ein Lachen. Man stößt oft an, und Silvio schenkt eifrig nach.
    Martha trinkt wie immer wenig, doch sie spürt den Alkohol. Sie merkt, dass sie rote Backen bekommt. Immer wieder greift sie nach Micheles Hand und er nach ihrer; sie tun das, während sie sich Rosmarin und Thymian reichen, manchmal tun sie es auch einfach so. Als Silvio nach Salbei fragt, stehen sie fast gleichzeitig auf, um im Garten ein paar Zweige zu holen. Für ein paar Minuten sind sie dort draußen allein, während sich die Sonne mit ein paar letzten Strahlen auf die Mauern verabschiedet, indem sie noch etwas warmes Rot auf die Steine gießt. Ein Finale, dem die Kraft des Sommers fehlt.
    »Geht’s dir gut?«, fragt Michele.
    Sie nickt.
    »Lina scheint mich nicht besonders …« Er sucht nach Worten.
    »Sie ist in einer Ausnahmesituation«, hilft sie ihm. »Und sie ist schwierig. War sie immer schon. Meine Erziehung halt …«
    »Ach, komm«, unterbricht er sie. »Keine Mutter, kein Vater ist unfehlbar. Sieh mich an.«
    »Aber du kannst noch das eine oder andere zurechtrücken. Das kann ich nicht mehr. Ich hab’s versucht, in den letzten Tagen. Ich versuch’s selbst heute Abend noch. Ich will ihr etwas mitgeben, das ich selbst erst jetzt wirklich entdeckt habe. Ich will, dass sie mich fröhlich in Erinnerung behält und glücklich.«
    »Bist du denn glücklich?«
    »Ja, zumindest jetzt, hier. Das haben wir uns so oft gesagt, du und ich. Dass letztlich nur der Moment zählt. Alles andere ist Illusion.«
    »Aber Menschen mögen nun mal Illusionen.«
    Sie lächelt. »Ja, und Liebende sind da ganz besonders gefährdet. Die haben die Illusionen geradezu erfunden.« Sie gibt ihm einen Kuss, einen kleinen, zarten, der die Lippen kaum berührt.
    Dann bückt sie sich und pflückt ein paar Stengel Salbei. Als sie sich wieder aufrichtet, schwankt sie ein bisschen.
    »Alles okay?« Er fasst nach ihrem Arm.
    »Ja, ja.«
    »Verträgst du den Wein?«
    Sie legt die Stirn in Falten. »Hey, das bisschen wird mir nicht mehr schaden. Die ganze Sache hat auch ihre Vorteile. Man fühlt sich plötzlich frei, weil alles an Bedeutung verliert. Das Leben spielt sich nicht mehr im Promillebereich ab. Im Gegenteil, es wird auf seine letzten Tage richtig großzügig.«
    Er schweigt und sieht auf die Salbeistengel in ihrer Hand.
    »Michele, tust du mir einen Gefallen?« Sie wartet seine Antwort nicht ab. »Hilf mir zu lachen. Mir ist heute danach, aber ich brauche dich dabei. Versprich es mir.«
    Mit der freien Hand streicht er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Okay, ich verspreche es«, sagt er, und wie zum Beweis verzieht er den Mund zu einem schiefen Lächeln.
    Sie reicht ihm die Kräuter. »Und nun lass uns diesem Lamm da drinnen mal ein bisschen Salbei geben.«
     
    Immer wieder taucht er auf an diesem Abend, der Gedanke an ihren eigenen Geburtstag vor fast drei Monaten, und dreht Pirouetten in ihrem Kopf. Sie hatte die Feier abgewickelt, hatte Crémant ausgeschenkt und Roastbeef serviert, während ihr Herz bereits die Reise ins Ungewisse antrat. Sie hatte sich gewehrt gegen ihre Freunde, die ihr weismachen wollten, dass man sich mit fünfzig abzufinden hatte. Sicher wohlmeinende Freunde, aber auch Menschen, die sich eingerichtet haben in einem Planquadrat, das sie Leben nennen. Die ihren Job machen und ihre zweiwöchigen Urlaube und zu Weihnachten Gänsebraten. Die im Laufe der Jahre ihre Träume als Jugendsünden abgelegt haben und sich Zufriedenheit gern mal als Glück verkaufen. Die den Selbstbetrug kultiviert haben und auf Dinnerpartys ihr Dasein wie einen Bauchladen aufklappen, in dem lauter Mogelpackungen glitzern. Menschen, die teuren Rotwein trinken und teure Autos fahren und nicht mehr merken, dass es das wahre Glück umsonst gibt, weil sie das schlichte Hinspüren verlernt haben, wie man Vokabeln einer Sprache verlernt, die man lang nicht mehr gesprochen hat.
    Martha hat diese Sprache wiedergefunden, weil sie das Land gewechselt hat. Sie hat ein paar Leute zurückgelassen, aber Hans ist heute hier, und Lina ist es auch.
    Sie spürt eine neue, zaghafte Vertrautheit zwischen den beiden, und das erleichtert und irritiert sie gleichermaßen. Sie würde auf den letzten Metern damit leben müssen, dass die Tochter sich
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