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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
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aufgenommen, nicht? Wie alt warst du da?«
    »Sechs.«
    Sie setzte sich vor den Kamin, der sich zwischen die Bücher drängte.
    »Hilfst du mir?«
    Schnell reichte ich ihr ein paar knochentrockene Holzscheite aus einem Korb auf dem Boden. Ich sehe ein, dass da etwas ist, das ich Ihnen erzählen muss, auch wenn ich im Prinzip nicht glaube, dass ich als Person auch nur eine Spur wichtig für diesen Teil der Geschichte bin. Doch sonst werden Sie nicht verstehen, warum ich mich plötzlich so leer und traurig fühlte, dass Nella mich ganz verwundert ansah.
    »Ist etwas?«
    Die Leute sagen hin und wieder, dass Nella mir ähnlich sieht, wenn sie so guckt. Ein Ausrufungszeichen zwischen den Brauen und die Augen leicht schräg. Ich muss ehrlich gesagt zugeben, dass ich das erwähne, weil mir der Vergleich schmeichelt.
    »Nein, was sollte denn sein?«
    Die Holzscheite wanden sich wütend, als Nella versuchte sie anzuzünden. Mein Blick fiel auf die vielen Streichholzschachteln im Regal. Ein Lichtblick, dachte ich. In Kopenhagen waren Streichhölzer im letzten Jahr Mangelware geworden, und ja, ich rede darum herum. Ich habe das nie jemandem erzählt, nicht einmal meinem besten Freund, Ambrosius, deshalb weiß ich nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Das ist der Nachteil, wenn man Geheimnisse zu lange mit sich herumträgt, irgendwann gehen einem die Worte für sie aus.
    Es geht um die ersten vier Jahre meines Lebens. Ich weiß sehr wohl, dass ich geschrieben habe, gut damit gelebt zu haben, nicht viel darüber zu wissen, und das sage ich auch gewöhnlich, wenn jemand sich erdreistet danach zu fragen. Doch die Wahrheit ist die, dass alles, was ich nicht über mich weiß, sich wie ein saugendes Loch in meinem Inneren anfühlt; wann ich Geburtstag habe, wer meine Eltern sind, inwieweit ich ihnen ähnlich sehe, was in den ersten Jahren meines Lebens passiert ist. Und hin und wieder, wenn ich direkt mit einer Familie oder auch nur den traurigen Resten davon konfrontiert werde, wächst das Loch, sodass ich kaum etwas anderes sehe. Selbst wenn die Familie so zweifelhaft ist wie Nellas.
    Lassen Sie mich das etwas vertiefen. Nellas Großeltern, Horace und Clara, wohnten, verstehe es wer kann, auch hier auf Liljenholm, und eines Abends im Jahr 1898 saßen sie aufrecht in ihrem Ehebett und starrten in die leere Ecke neben dem Fenster. Doch sie sahen nichts. Nicht mehr. Sie waren nämlich mausetot, und soweit man weiß, haben Antonia und ihre Zwillingsschwester Lily sie gefunden. Was zwei vierzehnjährige Mädchen zu dieser Abendstunde im Schlafzimmer ihrer Eltern zu suchen hatten, kann man nur mutmaßen, doch die offizielle Todesursache hieß jedenfalls Selbstmord. Liljenholm war zu diesem Zeitpunkt hoch verschuldet, sodass man berechtigterweise davon ausging, dass Horace und Clara lieber sterben als ihre alten Tage im Armenhaus verbringen wollten. Oder einige zumindest sind davon ausgegangen, denn schon damals tuschelte man über die Gespenster auf Liljenholm und darüber, dass Horace und Clara sich deren Unmut zugezogen haben könnten, indem sie versucht hatten, sie aus den Türmen zu vertreiben. Zur Strafe hätten die Gespenster ihre Seelen aus den Körpern der beiden Liljenholmer gezerrt, hieß es. Jetzt waren sie mit all den anderen vereint, die vor ihrer Zeit gestorben waren.
    Horaces und Claras viel zu früher Tod war übrigens weder der erste noch der letzte in der Familie Liljenholm, und so gesehen hatte die Ihnen bereits bekannte Madame Rosencrantz auf ihre Weise recht. Alle Generationen der Liljenholmer bekamen tatsächlich Zwillinge, und einer von ihnen war tatsächlich verrückt und beging Selbstmord. Horace hatte zum Beispiel eine Zwillingsschwester, die Hortensia hieß und sich schon als Vierzehnjährige das Leben nahm. 1850. Da sprang sie aus einem der großen Fenster und landete direkt im Rosenbeet. Und viele Jahre später sprang Antonias Zwillingsschwester Lily auch dort hinunter. Es gibt nicht ein Foto von ihr, weil sie all ihre Bilder höchstpersönlich aus den Fotoalben herausgerissen hat, bevor sie in den Tod sprang. Doch angeblich war sie weder so schön noch so charmant wie Antonia, und außerdem hatte sie weitaus weniger Glück. In einer feinen Familie wie der Liljenholmer erbte die Erstgeborene alles, den Titel und die Schlüssel zu Speisekammer, Truhen und Türen. Und die Erstgeborene war nicht Lily. Die Erstgeborene war Antonia.
    Während Lily ledig blieb, verlobte sich Antonia mit ihrer großen
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