Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
Vom Netzwerk:
Notiz von den Scherben zu nehmen. Jemand hatte die Kulisse zerstört, und trotzdem spielte sie die Rolle der heimgekehrten Tochter, die mit ein paar schnellen Schritten zu dem ersten der Zimmer hochging, die Schulter gegen die Tür stemmte, alle Kraft in die Bewegung legte. Die Tür in dem gewölbten Eingang gab einen klagenden Laut von sich und ging auf.
    »Machst du die Wandleuchte bitte aus? Wir wollen doch nicht, dass uns das E-Werk gerade jetzt den Strom abschaltet«, sagte sie über die Schulter. Normalerweise lasse ich mich von anderen Frauen, die zehn Jahre jünger sind als ich, nicht herumkommandieren. Doch ich machte eine Ausnahme und schaltete die Wandleuchte aus. Der Anblick der Wand ließ meine Fingerspitzen kribbeln. Meine Hände streckten sich wie von selbst danach aus.
    »Die Tapete draußen in der Halle, Nella?«
    »Ja, was ist damit?«
    Ihr Schatten fiel auf die gelbe Fläche, verzerrte sich leicht, doch man sah noch immer die langen, hellen Kratzspuren, die erschreckend deutlich an die Spuren auf Nellas Körper erinnerten. Sie hatte sie sowohl auf dem Rücken wie auch auf dem Bauch und den Beinen (wie man wohl ahnt, kennen wir einander ziemlich gut), doch an den Wänden waren noch erheblich mehr. Manche nur an der Oberfläche, während andere tiefer gingen, und die meisten verliefen in fünf parallelen Spuren, sodass man sich den Rest denken konnte. Meine Fingerspitzen folgten einem besonders tiefen Riss bis zu der offenstehenden Tür.
    »Wer hat die Tapete abgerissen?«
    Aus dem Vorzimmer, in das wir gerade traten, schien mir das Licht bleich entgegen. Nella lachte leicht.
    »Oh, das haben mit der Zeit bestimmt viele«, sagte sie. Das Zimmer machte auf mich einen ruhigen Eindruck. Die dunklen Holzbohlen und der dickbäuchige Sekretär an der einen Wand waren ganz grau vor Staub, genau wie der längliche Tisch, der auf seinen geschnitzten Tierpfoten abwartend mitten im Raum stand. Worauf er wartete, wusste man nicht, doch mit ein paar Stühlen hätte er sicher besser ausgesehen.
    »Ihr habt sie abgerissen?«
    Nella war bereits bei den beiden Fenstern, die auf die Lindenallee hinausgingen. Sie nickte von dort.
    »Ja, natürlich haben wir sie abgerissen.«
    Und wer weiß, vielleicht war das in den besseren Kreisen auf Südseeland eine ganz normale Beschäftigung. Ich hatte mein ganzes miserables 43-jähriges Leben mitten in Kopenhagen verbracht und demnach wirklich keine Ahnung, womit man sich die Zeit auf einem Gut wie diesem vertrieb.
    Darüber hinaus hatte man ganz offensichtlich versucht, seinen Gästen zu imponieren. Die Tapete in diesem Raum war mit goldenen Blumen übersät, der Stuck ähnelte einer hässlichen Kuchenverzierung (ich kann mir nichts Schlimmeres als Kuchen vorstellen), und mitten in etwas, das an eine kleinere Explosion von Stuckblumen erinnerte, hing ein überdimensionaler Kristallleuchter. Ich blinzelte, doch es bestand kein Zweifel. Die langen Glasprismen da oben schlugen zart gegeneinander, und eine Glaskugel schwang an einer reich dekorierten Kette spielerisch von einer Seite zur anderen. Nella zog den dicken, roten Gardinenstoff aus seinem Winterschlaf und inspizierte ihn.
    »Aber du erkennst das Meiste wieder?«, sagte sie, scheinbar ohne eine Antwort zu erwarten, und das war bestimmt auch gut so. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war ich durch das Gut gestürmt, und wenn ich irgendetwas wiedererkannte, war es eher die Stimmung als ein bestimmter Raum. Das unverkennbare Gefühl, nicht willkommen zu sein und boshaft beäugt zu werden, als wäre man wieder zehn Jahre alt. Oder sogar noch jünger, in meinem Fall. Nella wickelte sich in den Gardinenstoff ein.
    »Der reicht bestimmt für etliche neue Kleider, meinst du nicht?«
    »Zweifellos.«
    Wenn man nichts anderes und Besseres zu tun hatte, konnte man sich aus den Gardinen von Liljenholm mit Sicherheit eine ganze Garderobe nähen, aber es half weder sich herauszureden noch sie um sich zu drapieren. Der Raum scherte sich nicht das Mindeste um Besuch. Nella runzelte die Stirn, als ich das sagte.
    »Liljenholm war eigentlich nie ein freundlicher Ort«, entgegnete sie. »Daran dürftest du dich doch erinnern?«
    Doch in diesem Moment erinnerte ich mich nur an den haarsträubenden Tratsch, den ich über die Jahre über Liljenholm gehört oder gelesen hatte. Ohne ihn wirklich ernst zu nehmen. Von schlagenden Türen und ächzenden Lauten und Dingen, die verschwanden, nur um an den unwahrscheinlichsten Orten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher