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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
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Herzen.

November 1941

Die Ankunft
    Obwohl ich erst zum zweiten Mal in meinem Leben nach Liljenholm kam, musste ich tief Luft holen, bevor ich an diesem späten Nachmittag des Jahres 1941 über die Türschwelle trat. Als Erstes zündete ich eine goldene Lampe an, die sich einen Moment darauf zu leuchten entschloss. Der Koffer gab einen dumpfen Laut von sich, als ich ihn neben Nellas abstellte. Aufrecht wie immer stand sie in der stattlichen Halle. Ihre Hände bändigten schnell ein paar aus der Hochsteckfrisur auf Abwege geratene Korkenzieherlocken, und ich erahnte die mir nur zu gut bekannte Mischung aus Leichtigkeit und Konzentration auf ihrem leicht rundlichen Gesicht. Ich konnte nicht genug bekommen von dieser Mischung, kann es immer noch nicht, doch in diesem Augenblick sollte sie etwas anderes verbergen, dachte ich. Das Gut wirkte im ersten Moment zwar friedlich, doch ich spürte deutlich, dass dem bei Weitem nicht so war.
    Nella war hier aufgewachsen, doch sie sprach nur selten über ihre Vergangenheit. Das tat keine von uns, denn Nella vertrat die feste Meinung, dass sie dort, wo sie war, am besten aufgehoben sei. Nämlich hinter uns. Ich wusste jedoch genau, dass sie hier mehr Unglück erlebt hatte, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben auch nur annähernd erfahren, und trotzdem lächelte sie jetzt. Scheinbar ohne zu merken, dass es auf Liljenholm so still war, dass der Eindruck entstehen konnte, die alten Räume um uns würden sich gegenseitig zum Schweigen auffordern.
    »Alles sieht doch wie immer aus«, sagte sie, und es fiel mir schwer zu glauben, dass wir das Gleiche sahen. Das Zimmer war etwas zu gelb tapeziert, sonnengelb dürfte die korrekte Bezeichnung sein, und auf den Kacheln im Rautenmuster, die den Boden bedeckten, mischten sich Glasscherben und zerbrochene Spiegelrahmen in einem bunten Durcheinander. Als hätte eine unsichtbare Hand das Zimmer zehn Meter hoch in die Luft gehoben und aus Spaß fallen lassen, kam mir der Gedanke. Selbst das Geländer der stattlichen Treppe rechts war zertrümmert, bis zur Unkenntlichkeit zerhackt und verschrammt, und ich kam nicht umhin, an das letzte Mal zu denken, als ich hier gewesen war. Vor fünf Jahren. Auf dem Weg die Treppe hinauf, mit Nella dicht auf den Fersen und dem einzigen Gedanken im Kopf: Ist es zu spät? Ist es meine Schuld? Jetzt räusperte sie sich.
    »Kannst du nicht die Haustür hinter dir schließen? Hier ist es eiskalt.«
    Sie hatte recht. Die Kälte schlich sich durch alle Ritzen, und doch schwitzte ich, als die Tür sich mit einem Seufzer schloss. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, von Angst übermannt zu werden. Nicht damit zu schwitzen, diesmal wieder. Genau genommen kann man wohl sagen, dass meine Vorbereitung fehlgeschlagen war, und das passierte nur äußerst selten. In einem meiner früheren Berufe galt es, genau zu wissen, was auf einen zukam, und damit habe ich hoffentlich nicht zu viel verraten. Ich versuchte, den Blick auf die durch einen Wasserschaden verunstaltete Decke zu richten, die sich hoch über unseren Häuptern wölbte. Höher und höher, als würde sie dort oben herumschweben. Anschließend knöpfte ich meinen riesigen, unbequemen Lodenmantel auf, zog meinen Hosenanzug zurecht und suchte nach einem freien Bügel. Die Garderobe an der Tür erwies sich merkwürdigerweise als unbeschädigt, und es hing eine lange Reihe dunkler Mäntel daran. Sie hingen Schulter an Schulter. Mein Herz stach wie ein umgestülptes Nadelkissen.
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Nella, und ich hustete so laut, dass es hallte. Zu laut möglicherweise.
    »Mir geht es gut. Schließlich hat mich niemand gezwungen, hier herauszukommen, nicht?«
    Das stimmte. Obwohl man es nicht glauben sollte, hatte ich mich aus völlig freien Stücken entschlossen, Nella zu begleiten. Der Anlass war schlicht und einfach der, dass plötzlich ein uns unbekannter Käufer für Liljenholm aufgetaucht war. Hans Nielsen hieß er, und er wusste, wie er sich auszudrücken hatte: Wenn Nella von Liljenholm nicht die Absicht besäße, in Zukunft das Gut zu bewohnen, wäre er sehr an einem Kauf interessiert, gerne vollständig möbliert und natürlich für eine stattliche Summe. Könnte das geehrte Fräulein sein Ansinnen wohl überdenken?
    Meiner unwichtigen Meinung nach gab es da nicht viel zu überdenken. Liljenholm stand leer, seit Nellas Mutter, die große Autorin Antonia von Liljenholm, vor fünf Jahren gestorben war und Nella als ihre
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