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Das Treffen in Telgte

Das Treffen in Telgte

Titel: Das Treffen in Telgte
Autoren: Günter Grass
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verwarfen die Hände. Sie riefen einander die Frage zu, wo das so oft berufene Vaterland denn sei? Wohin es sich verkrochen habe? Ob es ein solches und in welcher Gestalt überhaupt gebe?
    Als Gerhardt, wie um den Fragenden Trost zu sprechen, sicher war: Ihnen allen sei kein irdisches, einzig das himmlische Vaterland gewiß! – hatte sich Andreas Gryphius schon aus dem Knäuel gelöst und andernorts auf Suche gemacht. Vorne, neben dem leeren Schemel, im aufgelösten Halbrund stand er, hatte den Topf mit der verpflanzten Distel gefaßt und das Emblem und »Sinnebild« ihrer Zeitweil gegen die Balkendecke gestemmt. So, von bedrohlicher Gestalt, wuchs er sich gewalttätig aus. Ein Gigant, der Wilde Mann, ein vorerst stöhnender Moses, dem die Zunge noch querlag, bis sich der Wortschub löste: Taub, stechend, vom Wind versät, des Esels Fraß, des Bauern Fluch, des strafenden Gottes Zorngewächs und Wucherplage, das hier, die Distel, sei ihrer aller Blum und Vaterland! – Worauf Gryphius das distelwüchsige Deutschland fallen und zwischen uns zerscherben ließ.
    Schöner hätte das keiner gekonnt. Das war unserer Stimmung gefällig. Sinnfälliger war uns das Vaterland nie bewiesen worden. Fast sah es aus, als seien wir nun zufrieden und auf deutsche Art froh über die Bildkräftigkeit unseres Jammers. Zudem war die Distel inmitten Scherben und verstreutem Erdreich heil geblieben. Man sehe, rief Zesen, wie unbeschadet das Vaterland den tiefsten Sturz überstehe!
    Alle sahen das Wunder. Und jetzt erst, nachdem sich kindliche Freude über die heilgebliebene Distel verbreitete, der junge Birken Erde um die entblößte Wurzel häufte und Lauremberg lief, Wasser zu holen, erst jetzt, angesichts der wieder harmlosen Versammlung und bevor sie dem üblichen Geplauder verfallen konnte, sprach Simon Dach, neben den sich Daniel Czepko gestellt hatte. Schon während der umsichgreifenden, in heftige Bewegung mündenden Suche nach dem verlorenen oder nicht mehr kenntlichen oder ganz und gar zu Unkraut gewordenen Vaterland waren die beiden, hier streichend, dort ergänzend, mit einem Papier beschäftigt gewesen, das nun von Dach, während Czepko die Reinschrift niederschrieb, als letzte Fassung des Manifestes verlesen wurde.
    Ganz ohne Rists Donnerworte kam der neue Text aus. Keine letzte Wahrheit wurde verkündet. Schlicht las sich die Bitte der versammelten Poeten, gerichtet an alle den Frieden suchenden Parteien, die Sorgen der zwar ohnmächtigen, aber doch der Unsterblichkeit verdingten Poeten nicht geringzuachten. Ohne den Schwed, den Franzos als Landräuber haftbar zu machen, ohne den bayrischen Landschacher zu verklagen und ohne Nennung auch nur einer der zerstrittenen Konfessionen wurden mögliche Gefahren und Friedenslasten mit Blick in die Zukunft kundgegeben: Es könnten sich in das ersehnte Friedenspapier Anlässe für künftige Kriege schleichen; es werde, bei fehlender Toleranz, der so heiß ersehnte Religionsfrieden nur weiteren Glaubenszwist zur Folge haben; es solle doch, bitte, mit der Erneuerung der alten Ordnung, so sehr deren Segen erwünscht sei, das altgewohnte Unrecht nicht miterneuert werden; und schließlich die Sorge der versammelten Dichter als Patrioten: Es drohe dem Reich Zerstückelung dergestalt, daß niemand mehr in ihm sein Vaterland, das einstmals deutsch geheißen, erkennen werde.
    Dieser Friedensaufruf von letzter Hand schloß mit der Bitte um Gottes Segen und wurde – kaum lag die Reinschrift vor – ohne weiteren Disput zuerst von Dach und Czepko, dann von den anderen, schließlich von Logau namentlich gezeichnet; worauf sich die Herren, als hätte ihr Bitten schon Gehör gefunden, hier freudig, dort ergriffen umarmten. Endlich waren wir sicher, etwas getan zu haben. Weil dem Aufruf die große Geste fehlte, sprach sich Rist ersatzweise aus: Er nannte Ort, Tag und Stunde der Handlung bedeutend. Es war zum Glockenläuten. Doch jenes Handglöckchen, das in der Tür zur Großen Diele angeschlagen wurde, hatte minderen Anlaß. Diesmal rief nicht die Wirtin zum Mittagstisch. Unter Greflingers Aufsicht, der nun als letzter das Manifest unterschrieb, war die Beute des nächtlichen Fischfangs gebraten worden. Als die versammelten Dichter aus der Großen Diele in die Kleine Wirtsstube drängten, achtete niemand mehr der zwischen Scherben heilgebliebenen Distel. Alle waren nur noch auf Fisch aus. Sein Geruch zog, und wir folgten.
    Simon Dach, der das bedeutende Papier mit sich trug, mußte seine auf
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