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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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Dasein. Und
     dafür ist im System kein Platz, man ist der Ansicht, Aufwand und Nutzen stünden in keinerlei Verhältnis, die Ressourcen sollten
     den jungen Leuten vorbehalten bleiben. Mein Vater ist nicht mehr produktiv, kann sich nicht mehr bewegen. Sein Leben ist heilig,
     doch man könnte ihn ungestraft töten. Solche Entscheidungen treffen Familien, seit es Familien gibt. Das läuft hinter verschlossenen
     Türen ab, meist ohne es offen auszusprechen. Und vielleicht ist es der einzige Weg.
    |29| Dass man herbeisehnt, das Leid möge ein Ende haben, ist normal. Doch damit gehen andere Empfindungen einher, derer man sich
     schämt. Der Wunsch, wieder frei zu sein, ist latent immer vorhanden. Das Schuldgefühl auch.
     
    An diesem Morgen aber bin ich zu einer solchen Entscheidung nicht bereit.
    Ich strecke dem Vertreter des Stationsarztes, einem großen, schlanken Mann in weißem Kittel, zu dem er eine Krawatte trägt,
     wie sie nur Ärzte tragen, die Hand entgegen.
    »Guten Tag, ich bin der Sohn des Herrn von Zimmer 412.«
    Das missfällt ihm. Er hat keine Sprechstunde, und ich habe mir auch keinen Termin über die Schwester geben lassen, sondern
     ihn einfach auf dem Flur abgepasst.
    »412?«
    »Ja«, sage ich und deute auf die Zahl, die im Flur immer wieder aufleuchtet, wie im Flugzeug, wenn ein Passagier die Stewardess
     ruft. In dem Fall ist der Passagier mein Vater, und seine Begeisterung, in den Himmel aufzusteigen, hält sich in Grenzen.
    »Unverändert, man muss abwarten.«
    Ich frage nach, ob man eine Dialyse bei ihm durchführen wird. Am Vortag hat man sie ausfallen |30| lassen, und ich vermute, dass er aus diesem Grund so unruhig ist.
    »Vorerst nicht, wir warten die Ergebnisse der Blutuntersuchung ab, und dann wird ihn der Nierenfacharzt untersuchen.«
    So schnell lasse ich mich nicht abwimmeln.
    »Er kommt dreimal in der Woche an die Dialyse, ein über den anderen Tag, und die letzte ist jetzt schon zweiundsiebzig Stunden
     her. Laborergebnisse hin oder her, ich kann Ihnen versichern, er ist nur deswegen so außer sich.«
    »Nun, das entscheiden immer noch wir.« Und dann fragt er, so zumindest empfinde ich es, süffisant: »Oder sind Sie vielleicht
     Arzt?«
    Ich antworte nicht sofort und koste den Moment aus, bis ich sage: »Ja, ich bin Arzt.«
    Verblüfft sieht der Herr Kollege mich an. »Sie sind Arzt?«
    »Ja, niemand ist vollkommen«, erwidere ich.
    Er lacht und meint, da hätte ich recht. Wenigstens das. Er versichert mir, mein Vater würde heute noch an die Dialyse angeschlossen.
     Ich möge entschuldigen, ich wüsste ja, wie die Patienten seien.
    »Ja, kann man wohl sagen. Sie sind das Schlimmste, das es gibt.« Und das meine ich nicht einmal ironisch.

[ Menü ]
    |31| 6
    Ich werde die Reise also antreten.
    Mein Vater steht kurz vor seiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Ein Arzt und eine Krankenschwester werden ihn zu Hause betreuen,
     außerdem kommt regelmäßig ein Kinesiologe. Dass so viele fremde Menschen bei ihnen ein- und ausgehen, um sie zu versorgen,
     gehört zu den wenigen Dingen, die meine Mutter beklagt. Als hätten Alter und Krankheit ihre Privatsphäre zu einer öffentlichen
     Angelegenheit gemacht. Meine Mutter fühlt sich unwohl, weil eine höhere Macht ihr klammheimlich die Entscheidungsgewalt darüber
     entzogen hat, wer ihr Haus betreten darf und wer nicht.
    Es gibt viele Probleme, aber wenn ich jetzt nicht reise, werde ich es nie tun. Das würde ich mir nicht verzeihen, und die
     anderen würden meinen Unmut zu spüren bekommen.
    Im Flugzeug schaue ich die Dokumente durch und stelle fest, dass ich versehentlich die Pässe meiner Kinder eingesteckt habe.
     Das ist nicht weiter |32| tragisch, sie sind in der Schule und haben nicht vor wegzufahren. Dafür habe ich die zweite Kamera vergessen und bin mir plötzlich
     nicht mehr sicher, ob ich die geeignete Kleidung trage. So schlecht vorbereitet habe ich mich noch nie auf Reisen begeben
     … Aber was soll’s. Als ich die Anweisung höre, alle Passagiere mögen nun die Sicherheitsgurte anlegen, entspanne ich mich.
     Ich bin nicht mehr verfügbar. Man kann mich nicht mehr alle zwei Stunden anrufen, um mich irgendetwas zu fragen. Der Kapitän
     verkündet, dass wir startbereit seien; ich atme tief ein und schließe die Augen. Ich habe das Gefühl, den anderen zu entkommen.
     Darin liegt das Geheimnis von Urlaub: In Wahrheit erholt man sich von bestimmten Menschen.
    Am Flughafen von Quito werde ich von Edison erwartet. Doktor
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