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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel
Autoren: Alexander Kuprin
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kandierte Kastanien. Ich vergehe, ich sterbe vor Verlangen! Ich glaube, ich quäle Dich! Ich kann es nicht erwarten! Mein Kopf ist schwindlig, mein Gesicht glüht, und meine Hände sind eiskalt. Ich umarme Dich. Deine Valentina .«
    Am selben Abend gegen elf brachte sie den Notar im Gespräch geschickt dazu, daß er ihr seinen Panzerschrank zeigte; sie hatte auf seinen finanziellen Ehrgeiz angespielt. Nachdem sie die Fächer und Schubkästen mit flüchtigem Blick gestreift hatte, wandte sich Tamara mit gut gespieltem Gähnen ab und sagte: »Puh, wie langweilig!«
    Sie umschlang mit den Armen den Hals des Notars und flüsterte direkt an seinen Lippen, heiß atmend: »Schließ das häßliche Ding ab, mein Schatz! Komm! Komm!«
    Und sie ging voraus ins Eßzimmer.
    »Komm doch, Wolodja!« rief sie von dort. »Komm schnell! Ich möchte Wein und dann Liebe, Liebe, Liebe ohne Ende! … Nein! Trink aus! Genauso, wie wir heute unsere Liebe bis auf den Grund auskosten werden!«
    Der Notar stieß mit ihr an und trank sein Glas in einem Zug aus. Dann leckte er sich die Lippen und bemerkte: »Seltsam … Der Wein scheint heute bitterlich zu sein.«
    »Ja!« stimmte Tamara zu und sah ihren Liebhaber aufmerksam an. »Dieser Wein ist immer ein bißchen bitter. Das haben die Rheinweine so an sich …«
    »Aber heute besonders stark«, sagte der Notar. »Nein, danke, meine Liebe, ich möchte nicht mehr!«
    Nach fünf Minuten war er im Sessel eingeschlafen, sein Kopf lag auf der Rückenlehne, sein Unterkiefer hing herab. Tamara wartete ein Weilchen, dann versuchte sie ihn zu wecken. Er blieb reglos. Da nahm sie eine brennende Kerze, stellte sie in ein Fenster, das zur Straße ging, lief in den Flur und lauschte, bis auf der Treppe leichte Schritte zu hören waren. Nahezu lautlos öffnete sie die Tür und ließ Senka ein, der wie ein richtiger Edelmann gekleidet war und eine neue Lederreisetasche bei sich trug.
    »Fertig?« fragte der Dieb flüsternd.
    »Er schläft«, erwiderte Tamara ebenso leise. »Hier sind die Schlüssel.«
    Sie gingen zusammen ins Arbeitszimmer, zum Panzerschrank. Nachdem er mit Hilfe einer Taschenlampe das Schloß untersucht hatte, fluchte Senka halblaut. »Der Teufel soll ihn holen, diesen Lumpen! Hab mir doch gedacht, daß das Schloß 'nen Code hat. Da muß man die Buchstaben wissen … Nun muß ich aufschweißen, und das dauert Gott weiß wie lange.«
    »Ach wo«, widersprach Tamara flink. »Ich kenne das Codewort … habe aufgepaßt. Stell ein: Z-e-n-i-t.«
    Zehn Minuten später stiegen beide die Treppe hinab, liefen im Zickzack durch mehrere Straßen und nahmen erst in der Altstadt eine Droschke zum Bahnhof, von wo aus sie die Stadt verließen, mit einwandfreien Pässen als das adlige Gutsbesitzerehepaar Stawnizki. Lange hörte man nichts von ihnen, bis Senka ein Jahr später in Moskau bei einem großen Einbruchsdiebstahl geschnappt wurde und im Verhör Tamara preisgab. Sie wurden beide zu Gefängnisstrafen verurteilt.
    Nach Tamara war die Reihe an der naiven, leichtgläubigen, immer schnell verliebten Verka. Schon lange liebte sie einen Mann, der sich Zivilbeamter bei einer Militärbehörde nannte. Er hieß Dilektorski. In ihrem Verhältnis war Verka die Anbeterin, er hingegen das Idol, das Verehrung und dargebotene Gaben herablassend entgegennahm. Schon seit dem Spätsommer merkte Verka, daß ihr Geliebter mehr und mehr abkühlte, gleichgültiger wurde und mit seinen Gedanken, während er mit ihr sprach, weit weg weilte. Sie quälte sich, war eifersüchtig, fragte ihn aus, doch stets erhielt sie zur Antwort nur unverbindliche Phrasen, unheilvolle Anspielungen auf ein baldiges Unglück, auf einen vorzeitigen Tod …
    Anfang September gestand er ihr endlich, daß er Staatsgelder veruntreut hatte, eine hohe Summe, etwa dreitausend Rubel, und daß in fünf Tagen eine Revision bevorstand und daß ihm, Dilektorski, Schande, Gerichtsverhandlung und schließlich Zwangsarbeit drohte. An dieser Stelle begann der Zivilbeamte der Militärbehörde zu schluchzen, griff sich an den Kopf und barmte: »Meine arme Mutter! Was wird aus ihr werden? Diese Demütigung überlebt sie nicht … Nein! Tausendmal lieber den Tod als diese Höllenqualen eines völlig unschuldigen Menschen.«
    Wenngleich er sich, wie stets, im Stile von Boulevardromanen ausdrückte (womit er übrigens die leichtgläubige Verka vor allem beeindruckt hatte), so ließ ihn doch der theatralische Gedanke an Selbstmord, einmal aufgekommen, nicht mehr
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