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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel
Autoren: Alexander Kuprin
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durchdrungen waren: »Des Herrn ist die Erde und das Weltall und alle, die darin leben.«
    Bis auf den Friedhof geleiteten die Mädchen ihre verstorbene Freundin. Der Weg dorthin führte an der Zufahrt zur Kutschergasse vorüber. Man hätte nach links in sie einbiegen können, das wäre sogar eine Abkürzung um die Hälfte gewesen, doch Tote wurden normalerweise nicht durch das Viertel gefahren.
    Dessenungeachtet kamen aus fast allen Türen die Bewohnerinnen zur Kreuzung gelaufen, so, wie sie gerade waren: nur in Hausschuhen, in Nachthemden, mit Kopftüchern. Sie bekreuzigten sich, seufzten, wischten sich die Augen mit Tüchern oder Jackenzipfeln.
    Das Wetter hatte sich gebessert. Grell schien die kalte Sonne vom kalten, wie blaues Email glänzenden Himmel herab, das letzte Gras des Jahres grünte, die welken Blätter an den Bäumen schimmerten golden, rosa und rot. Und in der kristallklaren kalten Luft erschollen feierlich, erhaben und schmerzerfüllt die edlen Worte: »Heiliger Gott, du von großer Kraft, heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser!« Und welch glühender, unersättlicher Lebenshunger, welche Sehnsucht nach flüchtiger, traumhaft vorübergehender Daseinsfreude und Lebensschönheit, welches Grauen vor dem ewigen Schweigen des Todes schwang in dem uralten Gesang des Johannes Damascenus!
    Dann ein kurzes Gebet am Grabe, das dumpfe Prasseln der Erde auf dem Sargdeckel … ein frischer kleiner Hügel …
    »Das wär's gewesen«, sagte Tamara zu den Freundinnen, als sie allein zurückblieben. »So ist das nun, Mädels – der eine früher, der andere später! Mir tut es leid um Shenka! Schrecklich leid! So eine finden wir nicht wieder. Und trotzdem, Kinder, sie hat's in ihrer Grube wesentlich leichter als wir in der unseren … Nun denn, noch mal das Kreuz geschlagen – und ab nach Hause!«
    Und als sie sich schon ihrem Haus näherten, sprach Tamara auf einmal nachdenklich die sonderbaren, unheilverkündenden Worte: »Ohne sie werden wir sowieso nicht mehr lange beisammen sein – in alle vier Winde wird es uns verstreuen … Schön ist das Leben! Seht nun die Sonne, der blaue Himmel … Wie klar die Luft ist … Und die Spinnwebfäden fliegen – Altweibersommer … Wie schön ist es auf der Welt! Nur allein wir Dirnen sind der letzte Dreck.«
    Die Mädchen gingen weiter. Doch plötzlich kam seitlich hinter den Gedenksteinen ein stämmiger, hochgewachsener Student hervor. Er holte Ljubka ein und berührte sacht ihren Ärmel. Sie wandte sich um und erblickte Solowjow. Sofort wurde ihr Gesicht blaß, ihre Augen weiteten sich, und ihre Lippen begannen zu zittern.
    »Hau ab!« sagte sie leise, voll grenzenlosen Hasses.
    »Ljuba … Ljubotschka …«, stammelte Solowjow. »Ich habe dich gesucht … gesucht … Ich … bei Gott, ich bin nicht so wie er … wie Lichonin … Ich will dich ehrlichen Herzens … gleich heute, wenn du magst, gleich auf der Stelle …«
    »Hau ab!« sagte Ljubka noch leiser.
    »Ich meine es ernst … ich meine es ernst … Ich mache keinen Spaß … Ich will dich heiraten …«
    »Ach, du Scheusal!« kreischte Ljubka plötzlich und gab Solowjow schnell und männlich derb eine Ohrfeige.
    Solowjow blieb einen Moment schwankend stehen. Seine Augen blickten gequält. Sein Mund stand halb offen, mit kummervollen Falten darum.
    »Hau ab! Hau ab! Ich kann euch alle nicht mehr sehen!« schrie Ljubka rasend. »Ihr Henker! Ihr Schweine!«
    Plötzlich schlug Solowjow die Hände vors Gesicht, wandte sich brüsk um und ging weg, mit unsicheren Schritten, wie ein Betrunkener.

9
    Und in der Tat, Tamaras Worte erwiesen sich als prophetisch. Nicht mehr als zwei Wochen waren vergangen seit Shenjas Begräbnis, doch in dieser kurzen Zeit war so viel über Emma Eduardownas Haus hereingebrochen wie manchmal nicht in fünf Jahren.
    Am nächsten Tag schon mußte die unglückliche Paschka, endgültig dem Schwachsinn verfallen, in ein Irrenhaus überführt werden. Die Ärzte sagten, es bestehe keinerlei Hoffnung, daß sie wieder gesund würde. Und wirklich, so, wie sie im Krankenhaus auf einen Strohsack auf dem Fußboden hingelegt wurde, so blieb sie bis zu ihrem Tode liegen, immer tiefer im schwarzen, bodenlosen Abgrund stillen Schwachsinns versinkend, doch sie starb erst ein halbes Jahr später an Dekubitus und Blutvergiftung.
    Als nächste war Tamara an der Reihe.
    Einen halben Monat etwa versah sie ihre Pflichten als Verwalterin, war immerzu außerordentlich rührig, energisch und ungewöhnlich erregt
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