Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Südsee-Virus

Das Südsee-Virus

Titel: Das Südsee-Virus
Autoren: Dirk C. Fleck
Vom Netzwerk:
sich, wie vorsichtig er plötzlich seine Schritte setzte. Als hätte er in Rudolfs Windschatten keinen Bezug zu dieser Landschaft entwickeln können, während er sich jetzt voller Ehrfurcht auf dem schmalen Grat bewegte, der ihn zu Maeva führen sollte. Nach genau fünfundvierzig Minuten erreichte er das freigelegte Bergdorf Morongo Uta. Es war 1956 von den Frauen und Männern Rapas in einer kaum nachzuvollziehenden Kraftanstrengung unter Leitung Thor Heyerdahls aus der Versenkung ans Tageslicht gebracht worden. Die Anlage hatte eine Gesamthöhe von fünfzig Metern, war vierhundert Meter lang und schüchterte Steve gewaltig ein. In London war es einfach, sich über den Ahnenkult lustig zu machen. Nicht hier. Hier nahmen die Geister der Verstorbenen einem schon den Atem, wenn sich in die eigenen Gedanken auch nur die Spur von Überheblichkeit oder Ignoranz mischte.
    Wo sollte er Maeva suchen? Sie zu rufen und in dieser einsamen Höhe notfalls ein gespenstisches Echo ertragen zu müssen, traute er sich nicht. Also schlich er vorsichtig durch das größte zusammenhängende Bauwerk, das in Polynesien jemals entdeckt worden war. Er sah in die Felswände gehauene kuppelförmige Nischen, die er sich nicht erklären konnte. Ebenso wenig wie die Reihen hochkant aufgestellter Steine, die er auf dem flachen Boden ausmachte und die an Schachfiguren erinnerten. Alles in Morongo Uta sah aus, als bräuchte man nur ein wenig Hand anzulegen, um das Dorf wieder zum Leben zu erwecken.
    »Hat Rudolf dich hergebracht?«
    Es war die Stimme Maevas, die ihn aufhorchen ließ. Sie kam von weit her, ob von oben oder unten, das vermochte er nicht zu sagen. Er blickte sich um. Nichts. Nur kahle Wände. Phantasierte er? Warum sagte sie nichts mehr? Am liebsten hätte er sich davongeschlichen, stattdessen verharrte er wie gelähmt inmitten dieses Geisterdorfes und spürte, wie ihm das Blut in den Schläfen pochte.
    »Ich bin hier oben!«
    Wo? Wo, um Gottes willen?! Endlich entdeckte er sie. Sie stand am Rande des Plateaus zehn Meter über ihm.
    »War das so schwer?«, fragte sie lachend und zeigte an, wie er zu gehen hatte. Die steil aufragende Felswand entlang, immer an der Felswand entlang. Tatsächlich befand sich hinter der Kurve, die die Wand in einiger Entfernung nahm, eine in Stein gehauene Treppe, auf der man bequem zu ihr gelangte. Maeva empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln. Wie schön sie aussah! Sie ging barfuß auf ihn zu, das lange schwarze Haar im Nacken zusammengebunden. Der rot gemusterte Pareo, in den sie sich gewickelt hatte, reichte gerade über die Brust. Ihre Schultern und Arme schimmerten bronzefarben in der Sonne. Mehr Südseeklischee ging nicht. Und dennoch wirkte die rührende Szene in diesem der Geschichte entrissenen Bergdorf authentischer als alles, was Steve bisher in Polynesien gesehen und erlebt hatte. Er fühlte sich auf einer Zeitreise ins Paradies versetzt, ohne schon zu wissen, dass dies die Hölle war.
    Anstatt eine der zahlreichen frei stehenden Hütten zu bewohnen, war Steve bei Rudolf eingezogen, in direkter Nachbarschaft zu Maeva, mit der er sich jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf den beschwerlichen Weg nach Morongo Uta machte, ihrem »Regierungssitz«, wie sie sagte. Es war empfindlich kühl morgens, um die fünf Grad, da war es ratsam, in einem Stück durchzumarschieren, was ihm von Tag zu Tag leichter fiel. Sie redeten beim Aufstieg nicht miteinander, das hätte unnötige Kraft gekostet, sie folgten ihrem Atem, der als Fähnchen vor ihnen herschwebte und der umso blasser wurde, je näher sie dem sonnenbeschienenen Plateau kamen.
    Steve war nicht der Meinung, dass sich Maeva sehr verändert hatte, wie Rudolf behauptete. Sie sprach nicht viel, das war richtig. Aber dafür, dass sie verraten worden war, und zwar von den Menschen, denen sie am nächsten stand, benahm sie sich erstaunlich gefasst. In ihrer vornehmen Selbstbeherrschung war sie von gewaltiger Schönheit, ja fast von gewalttätiger Schönheit, wie Steve fand, wenn er dem Moment wieder einmal nicht gewachsen war, in dem sich auf ihrem Gesicht Schmerz und Anmut stumm vereinten. Dass sie weder Omais noch Cordings Namen erwähnte, fand er normal, nach allem, was geschehen war. Ihm selbst fiel das nicht so leicht, aber natürlich versuchte er, sich an die unausgesprochene Sprachregelung zu halten. Indem ihre Namen zu Tabus erklärt worden waren, fehlte jedoch ein wesentlicher Zugang zu Themen, die er gerne mit ihr besprochen hätte. Wie stellte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher