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Das stille Gold der alten Dame

Das stille Gold der alten Dame

Titel: Das stille Gold der alten Dame
Autoren: Leo Malet
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Balzac gemein — auch der hatte sich im 16. Bezirk niedergelassen.
Das Balzac-Haus in der Rue Raynouard zählt zu den
unverzichtbaren Pflichtbesuchen bei einem Streifzug durch das zu Unrecht
verkannte 16. Arrondissement. Wenige Monate nur wollte er dort bleiben, wieder
einmal verborgen sein vor seinen zahllosen Gläubigern — sechs Jahre sind es
geworden. Drei Romane, so hatte er in einem Briefwechsel der geliebten Gräfin Hanska , die er später ehelichen sollte, gestanden, wollte
er dort schreiben — mehr als zwei Dutzend Bände brachte er zu Papier.

    Nur ein Teil des Hauses steht heute
noch. Aber die Rue Berton, diese schmale Gasse, zu der hin das idyllische
Grundstück abfällt, hat nichts von ihrem Charme verloren, der auch Léo Malet
dazu gebracht haben mag, sie als zentralen Schauplatz in das Geschehen um das ,stille Gold der alten Dame‘ einzubauen.
    „In der Mitte wird die Rue Berton so
schmal, daß zwei Personen nicht nebeneinander hergehen können.“ Das ist kaum
übertrieben. Und wenn es ein einziger ist und der auch noch einen Fotoapparat
in der Hand hält, dann bekommt er Schwierigkeiten. Das liegt weder an Balzac
noch an Léo Malet, sondern an der türkischen Botschaft. Die zählt nämlich zu
den bestgeschützten diplomatischen Vertretungen in ganz Paris. Aus gutem Grund.
Wiederholt war die Botschaft Angriffspunkt terroristischer Gewaltakte.
    Der höfliche, aber mißtrauische Polizist (hat Kommissar Faroux ihn auf mich angesetzt?) benötigt schon ein in
seinen Dienstvorschriften nicht vorgesehenes Maß an Phantasie, um meine Absicht
nachzuvollziehen, die Rue Berton und den von Nestor Burma beschriebenen
Pavillon zu orten und abzulichten.
    Wie hätte Malet diesen filmreifen
Schauplatz auslassen können! Eine gepflasterten Pfad, der sich, wie nur wenige Gäßchen im heutigen Paris, seinen ländlich-provinziellen
Charakter bewahrt hat. Früher befand sich an dieser Stelle die Residenz der Prinzessin
von Lamballe , die während der Revolutionswirren auf
grauenvolle Weise umgebracht wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, ihre
Freundin Marie-Antoinette öffentlich zu schmähen.
    Ein halbes Jahrhundert später
installierte dort ein Doktor Blanche eine psychiatrische Klinik, die nach Nerval und dem Komponisten Gounod auch Guy de Maupassant zu
ihren Patienten zählte. Maupassant wurde als schon hoffnungsloser Fall
eingeliefert, den eine verschleppte Syphilis zu Grunde gerichtet hatte.
Friedrich Sieburg schildert augenfällig die
fortgeschrittene Verwirrung des Kranken, der bei seinen Rundgängen im
Anstaltsgarten immer wieder mit dem Finger Löcher in die Erde gebohrt habe und
den Arzt davon zu überzeugen suchte, daß kraft biologischer Gesetzmäßigkeit nach
neun Monaten Kinder aus dem Boden sprießen würden.
    Überzeugte Republikaner werden darauf
verweisen, daß das traurige Ende des wohl begabtesten Novellisten der französischen Literatur durch die Dekadenz seiner adligen Herkunft
vorgezeichnet sei. Aber diese Episode wollte ich dem pflichtbewußten Polizisten nicht auch noch zumuten.

    Immer wieder läßt sich im 16 . Arrondissement der genius loci aufspüren. Ein Beispiel nur: das
Clemenceau-Museum in der Rue Franklin. Der französische Ministerpräsident und
notorische Deutschenhasser bewohnte jahrzehntelang das düstere Erdgeschoß des
Hinterhauses und schmiedete dort mit Emile Zola die publizistischen Pläne zur
Wiederaufnahme des Dreyfus-Prozesses. Am 13. Januar 1898 veröffentlichte
Clemenceaus Zeitung , L‘Autore ’ den legendären Leitartikel unter der Schlagzeile „ J’accuse “,
der die skandalöse Dreyfus-Affäre erneut ins Rollen brachte. Nur wenige
Gehminuten von der Rue Franklin entfernt steht das Wohnhaus des Hauptmanns
Alfred Dreyfus in der Rue Georges Mandel.
    Ganz in der Nähe dann die Place du Trocadéro und das Palais de Chaillot .
Früher war Chaillot ein eigenständiges Dorf an den
stadtauswärts leicht ansteigenden Hügeln am Ufer der Seine. Weinberge säumten
den Fluß. Die Weltausstellung 1889 war nicht nur die Geburtsstunde des
Eiffelturms auf dem Marsfeld (siehe Léo Malet / “Ein Clochard mit schlechten
Karten“), sondern auf der gegenüberliegenden Seite auch die eines exotisch
anmutenden Bauwerks. Ein orientalisches Traumgebilde aus tausendundeiner Nacht
mit zwei Türmen, die an Minarette erinnerten. Ein halbes Jahrhundert später
wurde das Kuriosum wieder abgerissen. Abermals fand eine Weltausstellung statt,
etwas Neues mußte her. Der Zeitgeist verzichtete
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