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Das Sterben in Wychwood

Das Sterben in Wychwood

Titel: Das Sterben in Wychwood
Autoren: Agatha Christie
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gesagt?
    «Auch Lavinia Pinkerton glaubte niemand.» Dann musste Lavinia Pinkerton etwas von ihrem Verdacht Mrs Humbleby anvertraut haben.
    Im Nu kehrte die Erinnerung an die Bahnfahrt wieder und an das bekümmerte Gesicht einer netten alten Dame. Er hörte eine ernste Stimme wieder sagen: «Der Ausdruck auf dem Gesicht eines Menschen». Und die Art, wie ihr eigenes Gesicht sich verwandelt hatte, als sähe sie im Geiste etwas sehr klar. Einen Augenblick lang, dachte er, war ihr Gesicht ganz anders gewesen, die Lippen über die Zähne hinaufgezogen und ein seltsamer, fast stierer Ausdruck in ihren Augen.
    Er dachte plötzlich: Aber ich habe jemanden gerade so dreinschauen gesehen – mit demselben Ausdruck… Ganz kürzlich – wann? Heute Vormittag! Natürlich! Miss Waynflete, als sie im Wohnzimmer von Ashe Manor Bridget ansah.
    Und plötzlich kam ihm eine andere Erinnerung, die viele Jahre zurücklag. Tante Mildred, die sagte: «Weißt du, mein Lieber, sie hat ganz blöd ausgeschaut», wobei ihr eigenes, vernünftiges, gemütliches Gesicht einen Augenblick lang einen leeren Ausdruck angenommen hatte.
    Lavinia Pinkerton hatte von dem Ausdruck gesprochen, den sie auf dem Gesicht eines Mannes – nein, eines Menschen gesehen hatte. War es möglich, dass, während einer Sekunde, ihre lebhafte Einbildungskraft den Ausdruck, den sie gesehen hatte, reproduzierte – den Ausdruck eines Mörders, der sein nächstes Opfer betrachtete…
    Halb unbewusst beschleunigte Luke seine Schritte auf Miss Waynfletes Haus zu.
    Eine Stimme in seinem Hirn wiederholte immer wieder:
    «Nicht einen Mann – sie erwähnte nie einen Mann – du nahmst an, es sei ein Mann, weil du an einen Mann dachtest – aber sie hat es nie gesagt… O Gott, bin ich ganz verrückt? Was ich denke, ist nicht möglich… sicher ist es nicht möglich – es liegt kein Sinn darin… Aber ich muss zu Bridget, ich muss wissen, dass alles mit ihr in Ordnung ist… Diese Augen – diese seltsamen lichtgelben Augen! Oh, ich bin verrückt! Ich muss verrückt sein! Whitfield ist der Verbrecher! Er muss es sein – er hat es ja so gut wie gesagt!»
    Und noch immer sah er, wie in einem Alptraum, Miss Pinkertons Gesicht mit seiner augenblicklichen Widerspiegelung von etwas Entsetzlichem und fast Irrem.
    Das kleine Dienstmädchen öffnete ihm die Tür; ein wenig erschrocken über seine Heftigkeit sagte sie:
    «Die Dame ist ausgegangen, Miss Waynflete hat es mir gesagt. Ich werde schauen, ob Miss Waynflete zu Hause ist.»
    Er drängte sich an ihr vorüber ins Wohnzimmer. Emily lief in das obere Stockwerk und kam atemlos zurück.
    «Die Gnädige ist auch ausgegangen.»
    Luke nahm sie bei der Schulter.
    «Wohin? Welche Richtung haben sie eingeschlagen?»
    Sie gaffte ihn an.
    «Sie müssen zur Hintertür hinausgegangen sein. Wenn sie vorn hinausgegangen wären, hätte ich sie gesehen, weil die Küche dort liegt.»
    Sie folgte ihm, als er hinaus in den winzigen Garten und weiter lief. Dort stand ein Mann, der eine Hecke stutzte. Luke ging auf ihn zu und stellte eine Frage an ihn, wobei er sich bemühte, seine Stimme zu beherrschen.
    «Zwei Damen? Ja. Vor einer Weile; ich aß gerade mein Mittagbrot unter der Hecke; sie werden mich wohl kaum bemerkt haben.»
    «Welchen Weg sind sie gegangen?»
    Er bemühte sich verzweifelt, seiner Stimme einen normalen Ton zu geben, trotzdem weiteten sich die Augen des andern, als er langsam erwiderte:
    «Über die Felder… Dort hinüber, weiter weiß ich nicht.»
    Luke dankte ihm und begann zu laufen. Sein Gefühl der Dringlichkeit hatte sich verstärkt. Er musste sie erreichen – er musste! Vielleicht war er total verrückt. Aller Wahrscheinlichkeit nach machten sie nur eben einen freundschaftlichen Spaziergang, aber etwas in ihm trieb ihn an. Schneller, schneller…
    Er schritt über die zwei Felder und blieb zögernd auf einem Landweg stehen. Wie nun weiter?
    Und dann hörte er den Ruf – schwach, weit entfernt, aber nicht zu verkennen…
    «Luke, Hilfe!» und wieder: «Luke…»
    Sofort stürzte er sich in das Gehölz und rannte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Jetzt war noch etwas anderes zu hören – Ringen – Keuchen – ein halberstickter Schrei…
    Er brach gerade rechtzeitig durch die Büsche, um die Hände einer Irrsinnigen vom Hals ihres Opfers zu reißen und die sich heftig Sträubende und mit Schaum vor dem Mund Fluchende festzuhalten, bis sie endlich mit einem krampfhaften Zucken in seinem Griff
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