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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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das Versprechen abgenommen, dass er Dir diese Stelle gibt, sobald ich unter der Erde bin. Vielleicht ergreifst Du diese Chance. Mir hat sie jedenfalls das Leben gerettet.
    Es grüßt Dich zum letzten Mal
    Dein Vater
    Nach einer Nacht, in der Julius nicht wusste, ob sein knurrender Magen ihn am Schlafen hinderte oder die Zeilen seines Vaters, die in seinen Gedanken vorüberzogen wie Nebelschwaden, entschied er sich zu einem schweren Weg. Den schwersten, den er bisher gegangen war. Seine Hand krampfte sich um das dünne Blechgeschirr wie um den Hals eines Todfeindes. Er starrte angestrengt zu Boden, wo sich sein Blick in den aufgeplatzten Schuhen seines Vordermanns verlor. In seine Nase kroch unaufhörlich der Gestank von Urin und alten, feuchten Kleidern. Stinke ich mittlerweile auch so, fragte er sich verschämt und schob die Nase noch tiefer in den Kragen seines fadenscheinigen Hemdes. Er roch nichts als seinen eigenen abgestandenen Hungeratem. Hinter ihm erklang das vorsichtige Scheppern der Blechschüsseln und ein aus Dutzenden Nasen kommendes Schniefen.
    An diesem Morgen war der erste Schnee gefallen, und Julius Pawalet hatte sich auf den Weg zur wahrhaft letzten Haltestelle begeben. Mit gesenktem Kopf stand er in der Schlange einer Suppen- und Teeanstalt und hoffte, dass es schnell vorbei war. Der qualvoll langsam vorwärtskriechende Zug der Wartenden löste eine solche Scham in ihm aus, dass er sich überlegte, ob er das Blechgeschirr nicht wegstellen und schnellstens das Weite suchen sollte. Doch der Hunger und die Schwäche hatten ihn unerbittlich im Griff. Wenn er nicht bald etwas zu essen bekam, würde er auf der Straße umkippen und einfach liegen bleiben.
    Er wagte einen Blick über die Schulter des stinkenden Mannes vor ihm. Etwa zehn Menschen trennten ihn noch von dem Topf und der großen Schöpfkelle, die einen unbestimmbaren braunen Brei in die Schüsseln klatschen ließ. Unter den widerwärtigen Gestank seiner hungernden Mitbürger mischte sich der Duft von Linseneintopf, und Julius wäre gestorben für dieses Essen. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde, wenn er erst einmal wieder etwas im Magen hatte. Er hatte keinen anderen Wunsch mehr als diesen: essen.
    Den Brief seines Vaters hatte er in den nächsten Abfalleimer geworfen, nachdem er sich im Morgengrauen auf den Weg machte. Was bildete dieser alte Schmarotzer sich eigentlich ein! Glaubte er allen Ernstes, Julius würde auf dieses gefühlsduselige Angebot eingehen?
    Hatte er so seine Angst vor der ewigen Verdammnis gemildert, indem er seinem Sohn dieses großzügige Angebot machte? Wut und Ablehnung schossen immer wieder in Julius hoch und machten ihn schaudern.
    Doch seit er den Brief zerknüllt hatte, hörte er immer wieder eine zarte, schwache Stimme in seinem Kopf, die nun wieder ertönte. Dem alten Mann konnte es gleichgültig sein, ob Julius die Anstellung im Museum annahm. Und zugleich war Julius es nur sich selbst schuldig und nicht seinem Vater, diese allerletzte Chance zu ergreifen.
    „Sie sind an der Reihe, mein Herr“, sagte in diesem Moment eine weibliche Stimme.
    Von hinten kam ein grober Stoß, so dass Julius drei Schritte nach vorn taumelte. Er blickte sich um.
    „He, beeil dich mal, wir haben auch Hunger!“, beschwerte sich ein bärtiger Obdachloser mit überraschend dicker Wampe. Julius sah wieder nach vorn und erschrak bis ins Mark.
    Hinter dem dampfenden Topf stand die junge Frau, die gestern am Grab seines Vaters gewesen war. Sie lächelte ihn auffordernd an und streckte die geöffnete Hand in Richtung seines Blechgeschirrs.
    „Sie sind zum ersten Mal hier, nicht wahr?“, fragte sie. Ihre Stimme war so leise in dem beständigen Geklapper der Schüsseln und Löffel, dass er sie kaum hören konnte. Wortlos hob Julius den Arm mit dem Blechnapf und starrte sie an.
    „Hör auf, das Mädel anzuglotzen, und komm zur Sache; wir warten hier doch nicht auf dich!“, schnauzte der Mann hinter ihm.
    Die Frau füllte die Schüssel bis zum Rand mit Linseneintopf und reichte sie Julius über den Tresen. Er hob die Hände ganz langsam und kniff die Augen zusammen.
    „Mitzi?“, fragte er.
    „Wie bitte?“ Die Frau sah ihn verwirrt an und griff bereits nach der Schüssel seines Hintermannes. Eine einzelne Schweißperle rollte dicht an ihrem Ohr herab und rann in eine krause Haarsträhne, die unter ihrer Haube herausschaute.
    „Sie sind Mitzi, nicht wahr? Ich habe Sie gestern auf dem Friedhof gesehen.“
    „Das muss eine
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