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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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nicht selber bitter nötig haben. Also, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“
    Die letzten Worte des Direktors hörte er nur noch gedämpft durch die Bürotür, die sich dumpf hinter ihm schloss. Draußen fragte er einen Gärtner nach dem Weg zur Bestattungshalle.
    Hätte Julius Pawalet gewusst, dass zur selben Zeit zahlreiche Menschen in Wien ihre schwarzen Kleider anlegten, um sich in wenigen Stunden zur Beisetzung seines Vaters einzufinden, hätte er schnell das Weite gesucht.
    Als er durch die Tür der Aussegnungshalle trat, fragte er sich, wer wohl für die Beisetzung seines Vaters hier auf dem Zentralfriedhof aufkommen würde. Wer vergeudete so viel Geld an diesen, während sein Sohn vor Hunger fast die Blumen von den Gräbern gefressen hätte?
    Ein Bestattungsdiener zog an einer Kordel, ein Vorhang glitt zur Seite, und Julius Pawalet sah in das Gesicht seines Vaters. Es war so weiß wie ein Ziegenkäse und faltig und erschlafft. Sein Kopf war fast kahl, und die geschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen. In dem schwarzen Anzug und dem steifen weißen Hemd wirkte er hölzern, und seine gefalteten Hände sahen aus, als hätte man ihm jeden einzelnen Knöchel gebrochen, um sie so friedlich hinzudrapieren.
    Wütend wandte Julius sich ab und fragte sich, warum sich das Schicksal diesen Scherz mit ihm erlaubte. Er war hergekommen, um die letzten kümmerlichen Reste seines Lebens zu bewahren, und stattdessen musste er sich nun mit etwas befassen, was ihn überhaupt erst in diese elende Lage gebracht hatte.
    „Du widerlicher Kerl“, flüsterte er gegen die Glasscheibe, hinter der seine Worte ungehört blieben.
    „Junger Herr, so sollten Sie wirklich nicht reden“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Julius fuhr herum. Vor ihm stand ein junger Mann in der schwarzen Uniform, die Julius selbst angestrebt hatte. Der Friedhofsdiener trug ein kleines Tablett mit einer dampfenden Teetasse und einem Stück Brot.
    „Das hier lässt Ihnen der Herr Direktor bringen. Er meinte, Sie könnten was im Magen brauchen.“
    „Ich brauche Arbeit, Mann, und nicht die Almosen des Herrn Direktor!“, rief Pawalet und stürmte an dem Mann mit dem Tablett vorbei. Am liebsten hätte er es dem milde lächelnden Mann aus der Hand geschlagen.
    Eine Glocke schlug zwölf. Auf dem Friedhof waberten immer noch die Reste des Morgennebels, und die Sonne war ein eisweißer Kreis hinter den starren Wolken. Es wäre für Julius Pawalet nun die letzte Gelegenheit gewesen, zu verschwinden und seinen Vater endgültig zu vergessen. Doch kurz darauf stand eine Traube Schwarzgekleideter am ausgehobenen Grab, Blumen in den Händen und … nein, er täuschte sich nicht: Einige von ihnen weinten.
    Wie kann das sein?, dachte er, verborgen hinter einer Eibenhecke. Diese vielen feierlich gekleideten Menschen mit betrübten Gesichtern am Rand des Grabes passten einfach nicht zu dem undurchsichtigen, lieblosen, selbstsüchtigen Trunkenbold, der Julius, als der 15 war, sein erstes selbst verdientes Geld abgeknöpft hatte, um es zu versaufen.
    Mindestens dreißig Menschen standen um das Grab. Ein Pfarrer hielt eine Rede, in der es hieß, mit Joseph Pawalet sei ein wertvoller Freund und liebenswerter Zeitgenosse heimgegangen.
    „Und insbesondere das Kunsthistorische Museum verliert einen geschätzten Mitarbeiter, der über seine Anstellung hinaus dem Museum ein treuer Freund war. Er hat mit seinem unermesslichen Wissen über die Kunst, trotz seiner niederen Position, Tausenden Besuchern ein lehrreiches und freundliches Geleit durch die Galerie gegeben, wofür wir ihm sehr dankbar sind. Mit ihm verliert das Kunsthistorische Museum einen alteingesessenen Experten, einen verlässlichen Wachhabenden und, um Herrn Direktor Kinsky zu zitieren, einen Teil des Inventars. Wir alle sind unendlich traurig, dass Joseph Pawalet gehen musste. Möge er in Frieden ruhen …“
    Julius Pawalet erstarrte. Das war es also, was seinen Vater gerettet hatte.
    Eine Anstellung im Kunsthistorischen Museum. Die Wut schoss ihm in den Mund wie bittere Galle. Er lenkte seine Aufmerksamkeit krampfhaft von diesem Gedanken fort und beobachtete die Menschen am Grab. Plötzlich bemerkte Julius Pawalet einen hochgewachsenen Mann, der von zwei Polizisten in Pickelhaube flankiert wurde, die sich aufmerksam umsahen.
    Der Mann war Inspektor Lischka, und der wusste noch nichts von der jungen Frau in der Eggerthgasse, die in diesem Moment mit Schaum vor dem Mund in ihrem Lehnstuhl erstarrte und
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