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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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Seine plumpe Gestalt verschwand im winterlichen Nebel.
    Julius betastete den Briefumschlag in der Hoffnung, dass vielleicht doch ein paar Geldscheine darin lägen. Doch bevor er ihn öffnen konnte, lenkte ein Geräusch ihn ab. Es war eine Frau, die mit der Eile von jemandem, der zu spät kommt, auf das Grab zulief und rasch einen kleinen Kranz neben das Holzkreuz legte. Der Totengräber nickte ihr ernst zu und beachtete sie nicht weiter. Julius jedoch ließ seinen Brief sinken und spähte durch die Äste auf die Gestalt, die nun neben der halb zugeschütteten Grube kniete und über die Kranzschleife streichelte wie ein krankes Kaninchen. Die Frau war nicht älter als 25. Sie trug einen schlichten grauen Hut, und auch ihre übrige Garderobe war vollkommen farblos, so als wollte sie eins werden mit dem trüben Wintertag. Julius konnte ihr Gesicht unter dem Hut nur von der Seite erkennen. So jung und rein, wie diese Frau auf den ersten Blick aussah, schien es seltsam unpassend, dass sie vor dem Grab seines alten, versoffenen Vaters kniete. Julius fühlte eine heftige Abneigung in sich hochsteigen. Am liebsten wäre er hinter der Hecke hervorgesprungen und hätte die Frau gefragt, in was für einer Beziehung sie zu Joseph Pawalet gestanden hatte. Doch er tat nichts dergleichen. Im nächsten Moment erhob sie sich und schlug ein nachlässiges Kreuzzeichen. Sie wandte sich mit gesenktem Kopf zum Gehen, und Julius konnte einen raschen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Ein blasses Gesicht, helle, klare Augen, aber ein schmaler und trauriger Mund. Alles in allem wirkte sie nicht reizlos. Aber ihre Zartheit war hart an der Grenze zum Verhärmten. Ihre graue Gestalt verschwand rasch zwischen den Büschen wie eine Dunstschwade.
    Erst jetzt sah Julius sich imstande, hinter der Hecke hervorzutreten.
    Der Totengräber begann mit dem Spatenblatt den Erdhügel glatt zu klopfen. Julius beugte sich über den Kranz neben dem Kreuz und las, was auf der Schleife stand: „Meinem unbekannten Geliebten. Ein letzter Gruß von Mitzi“.
    Er spürte, wie die Wärme ihm in die Wangen schoss. Hastig sah er sich nach der Frau in Grau um, konnte sie aber nirgends entdecken.
    Wenn Julius Pawalet gewusst hätte, dass die junge Frau nicht die Geliebte seines Vaters gewesen war, sondern dass der Schriftzug auf der Schleife einen viel komplizierteren Sinn hatte, wäre er ihr vielleicht nachgeeilt, um zu erfahren, wer sie war. So aber schüttelte er nur ratlos den Kopf und suchte sich einen Weg durch das Friedhofslabyrinth zurück.
    In seinem kalten, zugigen Zimmer unter der Dachschräge eines baufälligen Hauses am Spittelberg öffnete er mit flatternden Fingern die letzte Nachricht seines Vaters.
    Lieber Julius,
    wenn Du diesen Brief in Deinen Händen hältst, heißt das, das Du doch wissen willst, was ich Dir zu sagen habe. Schade, dass ich erst sterben musste, um die Möglichkeit zu bekommen, Dir zu helfen. Ich habe diesen Brief schon vor langer Zeit geschrieben und bei meinem treuen Freund Doktor Gustav Kinsky deponiert, für den Fall, dass ich sterbe. Jetzt hat er ihn Dir also übergeben.
    Schon bei diesen Zeilen fühlte Julius das unangenehme Gefühl von Leere in seinem Kopf aufsteigen wie eine Seifenblase, die einfach nicht platzen wollte. Wie hatte dieser Doktor Kinsky wissen können, dass Julius überhaupt zu der Beerdigung kam? Wie hätte er vom Tod seines Vaters erfahren sollen? Was für ein unheimlicher Zufall hatte ihn ausgerechnet heute auf den Friedhof geführt? Mit trockenem Mund las er weiter.
    Ich will nicht lange um den heißen Brei herum schreiben. Ich versuche auch nicht, Deine Verzeihung zu erbitten. Ich habe mich benommen wie der letzte Unmensch, das weiß ich. Es ist leider so, dass ich, als Du noch klein warst, in ziemlichen Schwierigkeiten gesteckt habe, die sich bis zum heutigen Tag nicht aufgelöst haben. Ich habe zu saufen angefangen, weil ich ständig Angst hatte. Wovor, kann ich Dir leider nicht sagen, denn das würde alles noch viel schlimmer machen.
    Aber ich habe nun doch das arge Bedürfnis, es wiedergutzumachen, was ich Dir angetan habe. Erinnerst Du Dich, als wir damals kurz nach Deinem 13. Geburtstag ins Kunsthistorische Museum gegangen sind? Weißt Du noch, wie begeistert Du von den ganzen schönen Gemälden warst? Ich habe die letzten Jahre dort gearbeitet. Es ist eine trockene, angenehme Arbeit. Um es kurz zu machen, Julius – jetzt, wo ich tot bin, kannst Du diese Anstellung übernehmen. Ich habe dem Direktor
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