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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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Verwechslung sein“, wich sie aus und senkte den Kopf.
    „Aber ja doch. Sie haben einen Kranz auf das Grab von Joseph Pawalet gelegt, ich habe Sie gesehen.“
    „Und wenn es so wäre, mein Herr“, sagte die Frau, „hier ist wohl kaum der richtige Ort, um darüber zu sprechen. Außerdem halten Sie alle auf. Nehmen Sie sich noch eine Semmel aus dem Brotkorb und suchen Sie sich einen Platz.“ Ihre Stimme klang immer noch sanft und freundlich, aber irgendetwas hinderte Julius daran, hartnäckig zu bleiben, obwohl ihm die Fragen im Mund brannten wie Pfeffer.
    Julius trug seine heiße Schüssel vorsichtig zu einem freien Platz. Er suchte sich einen Tisch aus, von dem aus er die Frau beobachten konnte. Beim ersten Löffel verbrannte er sich die Zunge. Der Eintopf war erstaunlich gut. Sein Blick ruhte auf dem grauen Kleid hinter den Dampfschwaden aus dem Topf. Er täuschte sich nicht. Das war die Frau, die er gestern hinter der Eibenhecke beobachtet hatte. War sie tatsächlich die Geliebte seines Vaters gewesen? Hatte der sie vielleicht vor Jahren genau hier kennengelernt, hungrig und am Ende seiner Kräfte, so wie Julius selbst?
    Er bemerkte kaum, wie das Essen seine Glieder wieder wärmte. Als die Schüssel leer war, fühlte er sich, als hätte er einen Stein im Magen. Er war so erschöpft, dass er am liebsten auf der Stelle eingeschlafen wäre. Aber Julius wusste, dass die Bestimmungen in den Hilfseinrichtungen Wiens sehr streng waren. Zum Schlafen hätte er in eine Wärmestube gehen müssen, und dort bekam er auch nur dann einen Platz, wenn er im Besitz einer Polizeianweisung war. Der Weg zurück in den zugigen Verschlag, den Frau Hanak an ihn vermietete, war weit, und so blieb er wie betäubt sitzen und starrte durch die Dampfschwaden auf das geheimnisvolle Geschöpf hinter dem Tresen. Wie eine Ringeltaube, die von einem Schwarm zerzauster Krähen eingekreist wird, dachte er.
    „Mein Herr! Sie können hier nicht schlafen!“ Eine Hand rüttelte an seiner Schulter.
    „Lauter Extrawürste will der Neue, was?“, schnauzte der dicke Obdachlose wieder, der einen Tisch weiter saß. Hinter Julius aber stand die junge Frau und sah ihn besorgt an.
    „Kommen Sie mit“, sagte sie und zog ihn von der unbequemen Bank hoch. Julius wunderte sich über ihren erstaunlich harten, kräftigen Griff. Die Frau bugsierte ihn in einen schmalen Gang und öffnete eine Tür. Dahinter lag ein Raum voller alter Möbel und Kisten und mit einer Garderobe, an der abgetragene Kleider hingen. Eine Chaiselongue mit fadenscheinigem Bezug stand vor einem Fenster, gegen das der Schnee flog.
    „Sie sehen krank aus. Was ist mit Ihnen?“, fragte die Frau und führte ihn wie einen willenlosen Jungen zu dem Sofa.
    „Wer sind Sie?“, fragte Julius, ohne auf ihre Frage einzugehen.
    „Ich weiß nicht, was Sie nur haben mit mir… Ich habe eigentlich keine Zeit für Ihre seltsamen Fragen.“
    „Bitte sagen Sie es mir. Es ist wichtig“, drängte Julius.
    Die Frau setzte sich auf einen klapprigen Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust.
    „Ich bin nicht diejenige, die diesen Kranz gestiftet hat. Ich habe ihn nur im Namen von jemandem dorthin gebracht, der zu schwach war, um selber zu kommen.“
    „Dann sind Sie nicht die Mitzi?“, fragte Julius verwirrt.
    Die Frau schüttelte bestimmt den Kopf.
    „Nein. Mein Name ist Johanna Kowak. Ich habe ihn für eine Dame dort abgelegt, die selbst nicht zur Beerdigung kommen konnte.“
    „Und wer ist diese Dame?“
    „Und wer sind Sie, dass Sie Ihre Neugierde nicht im Zaum halten können?“
    Sie hob das Kinn und musterte ihn streng. Julius senkte den Kopf. Dann sagte er etwas, was er in seinem ganzen Leben noch nie gesagt hatte: „Ich bin sein Sohn, Julius Pawalet.“
    „Pawalets Sohn?“, fragte Johanna.
    Plötzlich ging eine Veränderung in ihr vor. Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn und ergriff seine Hand. Sie sah ihn mit gerunzelten Brauen und einem Ausdruck von Schmerz an. Ihr Mund öffnete sich, als würde sie nach Worten suchen, doch die wollten nicht kommen. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte bedauernd: „Es tut mir sehr leid für Sie.“
    „Das muss es nicht“, murmelte Julius und starrte auf seine Hände, die plötzlich von anderen Händen umschlossen waren. Er fühlte die heißen, feuchten Ballen und die schlanken Finger dieser Hände und schluckte. Es war das erste Mal, dass eine Frau seine Hände hielt.
    „Von wem kommt der Kranz?“, fragte er leise.
    Ruckartig zog
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