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Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Das spröde Licht: Roman (German Edition)

Titel: Das spröde Licht: Roman (German Edition)
Autoren: Tomás González
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gewinnt immer oder fast immer die Oberhand, wie ein Stück Holz, das im Wasser unweigerlich nach oben kommt, auch wenn der Schrecken des Erlebten noch so tief sitzt.
    Durch Ángelas Geschichte lernte ich auf meine alten Tage, dass einer, der Hunger hat, nicht gerufen zu werden braucht. Wenn die Essenszeit naht, positioniert sich ihr Mann nach und nach in eine strategische Entfernung zum Tisch auf der hinteren Veranda, wo sie das Essen anrichtet, und während er mit großer Hingabe zwischen den Pflanzen herumhackt und Unkraut jätet, lässt er den Esstisch nicht eine Sekunde aus den Augen. Ángela könnte ihn zappeln lassen, indem sie das Essen zehn, fünfzehn Minuten später aufträgt, um Juan Pablos oder José Luis’ Magen zum Knurren zu bringen, oder sie könnte es eine halbe Stunde früher hinstellen, wenn er gerade nicht aufpasst, so dass die Suppe kalt würde und Fliegen hineinfielen, aber das tut sie nicht. Zu derartigen Rachespielchen ist sie sich zu schade. Sie trägt das Essen pünktlich auf, geht wieder, und er kommt. Wir Menschen sind eben Affen, die alle in ihren eigenen Mustern leben.

einunddreißig
    Nach Saras Telefongespräch mit Michael blieben wir noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen. Die Schwerkraft der Erde hatte sich vervielfacht.
    »Ich habe einen ehemaligen Russen kennengelernt, der davon lebt, alte Schallplatten an Kunden in der Fifth Avenue und Park Avenue zu verkaufen«, sagte ich, um sie abzulenken. Er wird ›Schellack-Strawinsky‹ genannt.
    Ich erzählte ihr von seinen Reisen.
    »Ob das alles stimmt?«, sagte Sara.
    »Gut möglich. Es ist zu verwickelt, um gelogen zu sein, oder?«
    »Glaubst du, er überlegt sich’s noch?«
    Ich wusste nicht, ob sie sich wünschte, dass Jacobo es sich noch einmal überlegte oder nicht.
    »Ich glaube, nein«, sagte ich, obwohl ich alles andere als das wollte.
    Als der neue Tag anbrach, war ich zum Umfallen müde. Ich legte mich für einen Augenblick hin und wachte um zehn Uhr wieder auf. Durch die Fenster zum Friedhof flutete das Sonnenlicht herein. Cristóbal lag auf dem Fensterbrett und leuchtete.
    Seit langem hatte ich keine Sonnenstrahlen mehr gesehen.
    Im Leben vermischen sich die großen Ereignisse mit den kleinen, und mit der Zeit verliert man den Durchblick. Was klein und was groß ist, niemand weiß es. Niemand weiß, ob manche Dinge weniger wichtig sind als andere. Niemand weiß, ob die Dinge einer Ordnung gehorchen oder zufällig geschehen. Im Moment, da ich dies schreibe, zum Beispiel, ist das Wichtigste, dass das Mädchen aus der Gärtnerei Ángelas Mann wie einen Hund behandelt. Ángela hat es mir gerade erzählt. Sein Hundeleben begann, gleich nachdem er zu der Frau gezogen war. Sie setzt ihm Hörner auf, zieht ihm das Geld aus der Tasche, macht ihn vor anderen klein, lässt ihn die Böden schrubben, kocht nicht für ihn und schläft nicht mit ihm.
    Ángela und ich schauten uns verschmitzt an.
    Wir fuhren noch einmal nach Bogotá, am Samstag, wegen meiner Augen. Nichts zu machen. Der Arzt weiß nicht weiter. Kaum ein Patient mit Makula-Degeneration wird blind. Ich schon. Es wird keine schwarze Blindheit sein, das habe ich schon gesagt, glaube ich, sondern eine helle, in der ich noch Schatten und Formen erkennen kann. Nun ja. Wir aßen in einem Restaurant zu Mittag. Im Zentrum spürte ich das Vibrieren der Stadt. Den Pulsschlag, wie die Leute es nennen. Dann gingen wir in den Parque Nacional, um unter Menschen zu sein, und aßen geröstete Maiskolben, die ich seit meiner Kindheit gern abgenagt habe, was mir jetzt aber etwas schwerfällt. Wir setzten uns auf eine Bank in die Sonne, und Ángelas Sohn erzählte, wie er einmal auf einem einsamen Feldweg fuhr und unverhofft einem Mann begegnete, der eine Unmenge Waffen trug. »Er hatte Revolver, Pistolen, sogar Maschinenpistolen, Don David.« Nach einer Weile kam ihm noch ein Mann entgegen, der mit noch mehr Waffen beladen war. Ángelas Sohn hat ein Gespür für das Absurde, es reizt ihn, und wenn er eine Geschichte erzählt, lässt er die Bilder eine Weile im Raum stehen, wie eine Vision oder einen Glockenschlag. Aber alles hat immer eine Erklärung. Etwas später sah er eine Gruppe von Leuten, die dabei waren, Aufbauten für eine Szene der Telenovela »Die fuchsrote Stute« abzuräumen, in der eine Schießerei auf offener Weide vorkommt. Ángelas Sohn will es immer ganz genau wissen, und deshalb wird er damals angehalten haben, um die Filmleute nach dem Titel der Telenovela zu fragen.
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