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Das Spiel seine Lebens

Das Spiel seine Lebens

Titel: Das Spiel seine Lebens
Autoren: Harlan Coben
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gesehen. Sie hatte Myron in eine verborgene Abstellkammer in ihrem Gedächtnis gesteckt und die Tür abgeschlossen. Sie hatte gedacht (gehofft?) das es damit erledigt wäre, dass die Tür einen gewissen Druck aushalten würde, ohne sich wieder zu öffnen. Doch als sie ihn heute gesehen hatte, das hübsche, freundliche Gesicht hoch oben über den breiten Schultern, den ruhigen »Warum-immer-ich«-Ausdruck in seinen Augen, war die Tür aus den Angeln geflogen wie bei einer Gasexplosion.
    Ihre Gef ühle hatten Jessica überwältigt. Sie wollte unbedingt mit ihm zusammen sein, also war sie abgehauen, so schnell sie konnte.
    Vollkommen logisch, dachte sie, wenn man eine Riesenmacke hat.
    Jessica sah aus dem Fenster. Sie wartete auf Paul. Lieutenant Paul Duncan von der Polizei in Bergen County - f ür sie schon immer Onkel Paul - stand zwei Jahre vor seiner Pensionierung. Er war der beste Freund ihres Vaters gewesen und jetzt war er sein Testamentsvollstrecker. 25 Jahre hatten sie gemeinsam f ür Recht und Ordnung gearbeitet - Paul als Cop, Adam als Gerichtsmediziner.
    Paul kam, um die letzten Einzelheiten des Gedenkgottesdienstes f ür ihren Vater zu besprechen. Adam Culver würde nicht beigesetzt werden. Davon hatte er nichts wissen wollen. Aber Jessica wollte mit Paul über etwas anderes reden. Allein. Was hier passierte, gefiel ihr gar nicht.
    »Hallo, mein Schatz.«
    Sie drehte sich um. »Hallo, Mom.«
    Ihre Mutter kam aus dem Keller nach oben. Sie trug eine Sch ürze und ihre Finger spielten mit dem Holzkreuz an ihrer Halskette. »Ich habe den Stuhl nach unten gestellt«, erklärte sie gewollt beiläufig. »Der nimmt hier oben nur Platz weg.«
    Erst jetzt fiel Jessica auf, dass der Stuhl ihres Vaters - über den ihre Mutter offenbar sprach - nicht mehr am Küchentisch stand. Der schlichte, ungepolsterte Stuhl, auf dem ihr Vater gesessen hatte, so lange Jessica sich erinnern konnte, der immer so nah am Kühlschrank gestanden hatte, dass er sich ohne aufzustehen umdrehen, die Tür öffnen und Milch aus dem obersten Fach nehmen konnte, stand jetzt in irgendeiner von Spinnweben überzogenen Kellerecke.
    Kathys nicht.
    Jessies Blick wanderte zu dem Stuhl rechts neben sich. Kathys Stuhl. Er stand noch da. Mutter hatte ihn nicht anger ührt. Ihr Vater, na ja, der war tot. Aber Kathy - wer weiß? Theoretisch könnte sie jeden Augenblick hereinspazieren, die Hintertür dabei wie immer gegen die Wand knallen, freundlich lächeln und sich zum Abendessen zu ihnen setzen. Die Toten waren tot. Wenn man mit einem Gerichtsmediziner zusammengelebt hatte, wusste man, wie nutzlos sie waren. Tot und begraben. Mit der Seele war das etwas Anderes. Jessies Mutter war eine fromme Katholikin. Sie ging jeden Morgen zur Messe. In Krisenzeiten wie diesen zahlte sich ihre religi öse Standhaftigkeit aus - wie bei jemandem, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging und die neu antrainierten Muskeln endlich einmal benutzen konnte. Sie zweifelte nicht, sondern glaubte einfach an ein freudiges himmlisches Leben nach dem Tode. Welch ein Trost. Jessica wünschte, sie könnte das auch, doch ihr Glaube war in den letzten Jahren nicht mehr so recht auf die Beine gekommen.
    Aber Kathy war vielleicht gar nicht tot. Daher der Stuhl -Mutters Laterne leuchtete weiter, um ihrer J üngsten den Weg zurück nach Haus zu weisen.
    Jessica fuhr morgens beim Aufwachen meist aufrecht im Bett hoch und dachte an - nein - dachte sich neue M öglichkeiten aus, was mit ihrer kleinen Schwester geschehen sein könnte. Lag sie tot in irgendeiner Grube? Von Ästen bedeckt im Wald? Ein von Tieren und Maden abgenagtes Skelett? Steckte ihre Leiche in einem Betonfundament? Stand sie, an den Füßen beschwert, auf dem Grund eines Sees oder Flusses, wie der kleine Unterwassermensch im Wohnzimmer-Aquarium? War sie ohne Schmerzen gestorben? Hatte man sie gequält? Hatte man ihre Leiche in kleine Stücke zerhackt, verbrannt, sie in Säure aufgelöst...
    Oder war sie noch am Leben?
    Die Hoffnung war nicht totzukriegen.
    War Kathy vielleicht entf ührt worden? Lebte sie als Sklavin unter der Fuchtel eines Scheichs im Mittleren Osten? Oder hatte man sie in Wisconsin an eine Heizung gekettet, wie in einer schlechten Fernsehserie? Könnte sie sich den Kopf gestoßen und vergessen haben, wer sie war, und lebte sie jetzt als Obdachlose ohne Erinnerung an die Vergangenheit? Oder war sie einfach weggelaufen, in eine andere Welt?
    Es gab unendlich viele Erkl ärungen für das Verschwinden eines
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