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Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)

Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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musterten. Veit war außerdem von bestürzend heller Hautfarbe und selbst im Sommer so blass wie ein neumodischer Geck, der einen Hut groß wie ein Wagenrad trägt, damit die Sonne seine Haut nicht bräunt. Die Stadtbehörden hatten ein Auge auf ihn, griffen jedoch nicht ein: Vorerst war er nichts als ein Regulativ, das die Aktivitäten im Jakoberviertel in gewissen Bahnen hielt und ihnen den Überblick erleichterte. Wenn er zu einer mächtigeren Einflussgröße würde, könnte man immer noch Maßnahmen ergreifen und ihn aus der Stadt prügeln lassen. So lebte er – ignorant gegenüber dem Umstand, dass mit steigender Ausweitung seiner Macht in Wahrheit die Sanduhr immer schneller für ihn lief – eine Existenz als Aaskrähe inmitten von eingeschüchterten Sperlingen und genoss es, dass die Spiele von Kindern und die Gespräche von Krüppeln verstummten, wenn er in ihre Nähe kam. Wir nannten ihn Fisch, seiner hellen Haut und seinem starren Blick wegen, und waren froh, dass er sich im Wesentlichen darauf beschränkte, die Angehörigen seiner eigenen sozialen Schicht zu belästigen; wenn wir sicher sein konnten, dass er es niemals erfahren würde, machten wir rohe Witze über ihn, seine Mutter und den Dreck, in dem er lebte.
    Bis er und seine Kumpane eines Sommertages in der Wölfszahnau auftauchten, als vier von uns, ich eingeschlossen, im Lech herumpaddelten, jeder nackte Jungenkörper eine römische Kriegsgaleere, und die Seeschlacht von Marcus Antonius vor Alexandria nachstellten.
    Sie standen plötzlich am Ufer, an der einzigen Stelle, dienicht von Wurzeln und toten Bäumen unzugänglich gemacht worden war, und glotzten zu uns herein. Wir glotzten zurück, die Gewissheit, ein kraftvolles Schiff voller bis an die Zähne bewaffneter Seesoldaten zu sein, plötzlich vergehend und stattdessen eine andere Gewissheit zurücklassend: dass heute ein Teil unserer Unschuld verloren gehen würde.
    Dann sprang der Fisch stumm ins Wasser, ohne sich die Mühe zu machen, seine Lumpen vom Leib zu reißen, und kraulte heftig platschend auf uns zu.
    Wir spritzten auseinander, ein Flottenmanöver, das Marcus Antonius' Strategen alle Ehre gemacht hätte. Die Freunde des Fischs sprangen ihm hinterher, ungeschicktere Schwimmer als er, der selbst nicht geschickt war, aber um nichts weniger gefährlich. Sie kreischten, als die Kälte des Wassers an ihre Körper drang. Der Fisch schnappte einen von uns, den zehnjährigen Änderlin Rem; einer seiner Freunde streckte die Faust aus und verkrallte sich in meinen Haaren. Ich schrie auf und warf den Kopf hin und her, aber er war stärker als ich und zog mich zu sich heran. Ich strampelte mit den Füßen und versetzte ihm einen Stoß in den Magen. Er verzog den Mund und schlug mir mit dem Handrücken über das Gesicht, doch sein Griff in meinem Haar lockerte sich. Ich entwand mich ihm und flog förmlich über das Wasser, den anderen Flüchtenden nach. Wir schafften es, uns ans Ufer zu retten. Sie schrien uns Schmähungen zu, aber sie hatten ihre Beute: Änderlin, um den sie sich sammelten und der in ihrer Mitte Wasser trat, stumm, mit weit aufgerissenen Augen, sein Gesicht blass auf dem dunkelgrünen Wasser, und sein Keuchen drang lauter zu uns als das Gebrüll der Angreifer.
    Änderlin sah nicht zu uns herauf, und er rief uns nicht um Hilfe. Wir wären auch nicht gekommen. Wir standen triefend am Ufer und sahen hinüber, wie die Wölfe sich um das Rehkitz drängten, jeder mit klopfendem Herzen vor Angst und klopfendem Gewissen vor Scham. Änderlin erwartete keinen Beistand. Wäre einer von uns an seiner Stelle gewesen und er stattdessen in Sicherheit, er hätte nicht anders gehandelt als wir. SeinSchweigen machte uns unsere Schäbigkeit doppelt bewusst, und ich dachte voller Panik: Wenn wir uns alle zusammentun, können wir sie von Änderlin ablenken und ihnen alle davonschwimmen, ihnen vielleicht sogar Angst einjagen, hier im Wasser, in dem wir uns sicherer bewegen als sie; sie sind doch nicht viel älter als wir. Aber ich wusste gleichzeitig, dass ich nicht einmal zurück ins Wasser gesprungen wäre, wenn meine Freunde es getan hätten, und ich brauchte sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass es ihnen nicht anders erging. Vor einer Minute waren wir alle Brüder gewesen, gewiss, füreinander durchs Feuer zu gehen; in diesem Moment waren wir die Überlebenden der Herde, die beobachteten, wie die Raubtiere einen der ihren zerrissen, vage dankbar, dass es ihn erwischt hatte und nicht sie.
    Sie
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