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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors
Autoren: Gene Wolfe
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ernähren können, in der Hoffnung, (zunächst) vom Autarchen ein Amt zu erhalten und (später) als Hauslehrer von einer hohen Familie übernommen zu werden. Auf die etwa sechzehnjährige Thecla übten solche Vorträge über Theogonie, Theodizee und dergleichen einen besonderen Reiz aus, wie es wohl bei jungen Damen oft der Fall ist. Ich erinnere mich inbesondere an eine Rednerin, die den alten Trugschluß dreier existierender Adonai, den der Stadt (oder des Volkes), den der Dichter und den der Philosophen, als Grundwahrheit auslegte. Ihre Überlegung war, daß seit Beginn des menschlichen Bewußtseins (falls es einen solchen Anfang überhaupt gäbe) in allen drei Kategorien unzählige Menschen versucht hätten, das göttliche Geheimnis zu durchschauen. Falls es einen Gott nicht gäbe, hätten sie das längst entdecken müssen; falls ja, wäre es ausgeschlossen, daß die Wahrheit selbst sie fehlleite. Dennoch unterscheiden sich die Überzeugungen des Volkes, die Einsichten der Poeten und die Theorien der Metaphysiker so sehr, daß nur wenige verstehen können, was die anderen sagen, und jemand, der ihre Gedankengänge nicht kennt, gar keinen Zusammenhang zwischen ihnen sieht.
    Wäre es nicht denkbar, fragte sie (und selbst jetzt bezweifle ich, ob ich eine Antwort geben könnte), daß sie nicht, wie immer angenommen, drei Wege zum selben Ziel begingen, sondern eigentlich auf ganz verschiedene zuhielten? Denn wenn wir uns im alltäglichen Leben Wege ansehen, die von der gleichen Kreuzung abzweigen, vermuten wir schließlich auch nicht, daß sie alle zum selben Ziel führen.
    Ich empfand (und empfinde) diesen Gedankengang als zugleich vernünftig und abstoßend, und er verkörpert für mich das ganze monomanische Gewirk der Argumentation, so fest verwebt, daß nicht der geringste Einwand oder Lichtfunke seinem Netz entwischen kann, worin sich der menschliche Geist immer dann verstrickt, wenn das Thema die Berufung auf Tatsachen ausschließt.
    Als tatsächliche Gegebenheit war die Klaue somit eine unvergleichbare Größe. Keine Geldberge, keine Anhäufung von Archipelagi oder Weltreichen könnte ihrem Wert gleichkommen, wie auch die unendliche Multiplikation der horizontalen Entfernung der vertikalen Entfernung nicht gleichkäme. Wenn sie, wie ich glaubte, aus einem anderen Universum stammte, dann wäre ihr Licht, das ich so oft schwach leuchten und so selten hell strahlen sah, in gewisser Hinsicht das einzige Licht, das wir hätten. Falls es erlosch, müßten wir im Dunkeln tappen.
    Ich glaubte, sie stets geachtet zu haben, solange ich sie trug, aber als ich dort auf dem sanft abfallenden Fels saß und über den nachtfinsteren See Diuturna ausschaute, erkannte ich, wie töricht es war, sie überhaupt am Leibe getragen zu haben – durch all die schweren Bedrängnisse und tolldreisten Abenteuer, bis ich sie schließlich verlor. Kurz vor Sonnenaufgang gelobte ich, mir das Leben zu nehmen, sollte ich sie bis zur Abenddämmerung nicht wiedergefunden haben.
    Ob ich diesen Eid zu halten vermocht hätte, das kann ich nicht sagen. Ich habe das Leben geliebt, seitdem ich denken kann. (Es war, glaube ich, diese Lebensfreude, die mir eine geschickte Hand in meiner Kunst verlieh, denn zu sehen, wie die Flamme, die ich so zärtlich liebte, anders als vollkommen ausgelöscht würde, das war mir unerträglich.) Sicherlich liebte ich das eigene Leben, nun mit dem von Thecla vermengt, so sehr wie fremdes. Wenn ich diesen Eid gebrochen hätte, wär’s nicht der erste gewesen.
    Freilich erübrigte sich das. Am frühen Vormittag dieses Tages, eines so herrlichen Tages, wie ich ihn selten erlebt hatte, als die Sonne eine warme Liebkosung und das Murmeln des Wassers unter mir eine sanfte Melodie waren, fand ich das Juwel – oder was davon übriggeblieben war.
    Es war auf dem Fels zerschellt; da lagen Stücke, groß genug, um einen Tetrarchenring standesgemäß zu schmücken, und Stäubchen, so klein wie die hellen Punkte, die in Goldglimmer eingeschlossen sind, mehr aber nicht. Weinend sammelte ich die Splitter nach und nach auf, und als ich erkannte, sie seien so tot wie die Juwelen, nach denen Bergleute tagtäglich schürfen, die geraubten Geschmeide der längst Verblichenen, trug ich sie zum See und warf sie hinein.
    Dreimal ging ich diesen Gang zum Seeufer mit einem Häufchen bläulicher Scherben in der hohlen Hand, und jedesmal kehrte ich zur Stelle zurück, wo ich das zerschellte Juwel gefunden hatte, um noch mehr zu suchen; und nach
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