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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen
Autoren: Jan Costin Wagner
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oben in die
    Wangen, nach unten in die Brust. Sie ging rückwärts.
    Schritt für Schritt. Sie war schon im Flur, und das Mäd-
    chen kam auf sie zu. Es schien verunsichert zu sein.
    »Mama?«
    Sie tastete nach dem Treppengeländer. Das war bes-
    ser. Sie konnte sich daran festhalten. Sie hörte Kalevis
    Stimme. Oben. Er stand oben am Treppenabsatz.
    »Was ist denn?« fragte er.
    Sie spürte, wie sich in ihrem Hals, in ihrer Kehle
    etwas sammelte, das auszubrechen verlangte. Und sie
    spürte etwas anderes, sie spürte, wie alles in Sekunden
    zu Nichts verpuffte. Das war nicht schlimm, ganz im
    Gegenteil. Sie umfasste das Treppengeländer und dachte,
    dass sie für diese Dinge, diese vergangenen, Kalevis Ka-
    mera hatten und Fotoalben, die sie ansehen würden.
    Wenn sich die Gelegenheit ergab, unbedingt sogar, aber
    erst, wenn sich die Gelegenheit ergab, und das konnte
    dauern, das würde sie Kalevi beizeiten sagen müssen,
    Kalevi, der gerade die Treppe herunter kam und sie for-
    schend und beunruhigt ansah.
    Kalevi nahm Stufe für Stufe, und dann sah er das
    Mädchen in der Tür und blieb stehen.
    Blieb stehen.
    »Sinikka«, sagte er.
    Sie hörte den Namen, sie spürte, wie er eindrang.
    Und jetzt spürte sie auch, wie sich der Schrei in ihrer
    Kehle langsam nach oben bewegte, auch das würde also
    vorübergehen.
    Kalevi war neben ihr. Sie spürte seine Tränen auf ihren
    Handflächen und einen Schrei in ihrer Kehle, und sie sah
    Sinikka, die fremd und nah im Türrahmen stand.
    Alles andere würde warten müssen, denn das Leben,
    das eigentliche Leben, hatte gerade erst begonnen.

    3

    Sundström begriff nicht. Begriff es einfach nicht, ob-
    wohl Kimmo Joentaa den Eindruck gehabt hatte, die
    Situation zutreffend geschildert zu haben. In einfachen,
    eindringlichen Worten. Aber Sundström schwieg nur,
    und dann fragte er nach einer längeren Pause:
    »Das heißt also, wenn ich dich richtig verstehe, dass
    Sinikka Vehkasalo ... dass sie möglicherweise ... noch
    lebt?«
    Sie saßen in der Küche, die Morgensonne flutete
    durch das Fenster.
    »Nein, nein«, sagte Joentaa.
    »Also nicht«, sagte Sundström und schien fast er-
    leichtert zu sein. »Dann habe ich das falsch verstanden.«
    »Nein, was ich sagen will, ist... sie lebt ganz sicher...
    ich habe sie ja gesehen.«
    Sundström starrte ihn an und wartete.
    »Sie ist wieder da. Sie saß vor dem Haus ihrer Eltern,
    als ich losgefahren bin«, sagte Joentaa.
    »Wann? Wo bist du losgefahren?«
    »Sie ist wieder da. Ich habe sie vor dem Haus ihrer
    Eltern sitzen sehen, vor zwanzig Minuten«, sagte Jo-
    entaa, und als Sundström nicht aufhörte, ihn fragend
    anzustarren, wiederholte er noch einmal: »Sie ist wie-
    der da.«
    Sundström verharrte einige Sekunden in seiner auf-
    rechten Position, dann sackte er in sich zusammen und
    sagte matt: »Aha. Erstaunlich.«
    »Ketola sagt, es sei ihre Idee gewesen.«
    Sundström nickte, schien aber weiterhin nicht zu be-
    greifen. »Das heißt ... wenn ich dich richtig verstehe,
    kennt Ketola Sinikka Vehkasalo ...«
    »Nein, er kennt sie eigentlich nicht... sie ist zu ihm
    gekommen. Sie war bei den Nachbarn, deren Tochter
    Geburtstag hatte ... und Ketola saß auf der Terrasse ...
    und das Modell stand auch auf der Terrasse ...«
    »Welches Modell denn? Du redest die ganze Zeit von
    diesem dämlichen Modell ...«
    »Das Modell, das angefertigt wurde im Zusammen-
    hang mit Pia Lehtinens Tod ... eine Art Tatortskizze ...
    ich hatte doch erzählt, dass Ketola es an seinem letzten
    Tag hier mitgenommen hatte ... wir hatten unten im
    Archiv danach gesucht...«
    »Ja, ja ... schön ...« Sundström schwieg wieder, fi-
    xierte einen Punkt an der Wand und schien damit be-
    schäftigt, die Versatzstücke zu einem Ganzen zu verei-
    nen. »So, so ...«, murmelte er. »Das würde bedeuten ...
    korrigiere mich, wenn ich jetzt falsch liege, aber das be-
    deutet doch, dass sich das Mädchen eine Art... Scherz
    erlaubt hat...«Sundströms Blick löste sich von der Wand
    und traf Joentaas Augen. Jetzt lag ein Hauch von Belusti-
    gung darin, für Scherze war Sundström zu haben.
    »Nein ... ich würde das nicht als Scherz bezeichnen.
    Sie hat ... ich vermute, sie hat darin ein Abenteuer ge-
    sehen ... ich weiß nicht, was genau in ihr vorgegangen
    ist ...«, sagte Joentaa.
    »Ausgeprägte Lust, die eigenen Eltern zu quälen?«
    Jetzt grinste Sundström schon.
    Joentaa schwieg und dachte, dass er diesen Aspekt des
    Ganzen am wenigsten
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