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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen
Autoren: Jan Costin Wagner
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verstand.
    »Muss ja wohl so sein«, sagte Sundström. »Das Mäd-
    chen muss doch komplett verrückt sein. Die spinnt
    doch!« rief Sundström aus und wirkte jetzt fast glück-
    lich.
    Joentaa dachte an Sinikka. Daran, wie sie auf der
    Treppe vor dem Haus gesessen hatte. Er fragte sich, ob
    sie noch immer dort saß ... oder ob sie schon ...
    »Und du spinnst auch, wenn ich das so sagen darf.
    Du bist einfach weggefahren, ohne mit dem Mädchen
    zu sprechen! Dieses Mädchen ist Zielobjekt einer auf-
    wändigen Ermittlung gewesen. Richtig?!«
    Joentaa nickte.
    Sundström nickte.
    »Ich wollte sie erst mal ... ankommen lassen«, sagte
    Joentaa.
    »Ja ...«, sagte Sundström. »Ja, ja ... wer würde das
    nicht verstehen ... vermutlich sticht die Tochter gerade
    der Mutter ein Küchenmesser in die Brust, und der
    Vater würgt im Gegenzug die Tochter zu Tode und
    sitzt anschließend friedlich bei seinen zwei toten Frauen
    im Haus, bis wir endlich kommen.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte Joentaa.
    »Wie schön«, sagte Sundström. Er schwieg eine Weile,
    dann sagte er: »Wir werden dennoch mit ihr reden
    müssen.«
    »Natürlich«, sagte Joentaa, und Sundström wirkte
    wieder merkwürdig heiter, als er sagte: »Was für ein
    ungeheurer ... ungeheurer Flop.«
    »Was meinst du?«
    »Was ich meine ... ich meine, dass wir uns lächerlich
    gemacht haben.«
    «Niemand hat sich lächerlich gemacht.«
    »Nach einem Mädchen zu suchen, das gar nicht ver-
    schwunden ist ...«
    »Sie war verschwunden.«
    »Du weißt, worauf ich hinaus will. Nein, wirklich, ich
    bin jetzt doppelt und dreifach neugierig auf diese ...
    merkwürdige Person ...«
    »Wir sollten das langsam angehen«, sagte Joentaa.
    Sundström wollte etwas entgegnen, hielt dann aber
    inne und nickte nur. »Glücklicherweise ist bei uns Nur-
    mela für die Pressekontakte zuständig«, sagte er. »Keine
    Angst, der wird das schon in einen Erfolg umdeuten.
    Und letztlich ... es ist ja auch egal ... Hauptsache, das
    Mädchen ist zurück ... und die Sache von damals ... das
    Verrückte ist ja, dass diese merkwürdige Idee sogar
    noch in gewisser Weise ... erfolgreich war.«
    Joentaa nickte und dachte, dass Ketola es ganz ähnlich
    formuliert hatte.
    »Ein irres Ding«, murmelte Sundström.
    Joentaa dachte an die Frau, die ihnen die Tür geöffnet
    hatte. An die Visitenkarte. An den jungen mit dem
    Fußball vor der Garagenwand.
    »Die Eltern werden die Gute doch windelweich prü-
    geln«, sagte Sundström.
    Er dachte an Sanna, auf dem Steg, im Schaukelstuhl,
    in Decken gehüllt.
    »Windelweich«, sagte Sundström.
    »Sie werden sich freuen«, sagte Joentaa.

    4

    Sinikka war klein und schmal. Eine kleine, schmale Per-
    son, die einige Meter vor ihm zielstrebig durch den Wald
    lief, während Kimmo sich auf das Gefühl konzentrierte,
    das in ihn eingedrungen war, als er am frühen Morgen
    über den Rasen in Ketolas Garten gegangen war.
    Ein Gefühl, das ihm gut tat, eines, das er bewahren
    wollte, ein leichtes Gefühl.
    Das Gefühl, ein wenig jenseits, ein wenig über dem
    Boden zu schweben.
    Es war angenehm kühl im Schatten der Bäume. An-
    fänglich waren ihnen Jogger und Radfahrer entgegenge-
    kommen, deren fragende Blicke sie gestreift hatten. In-
    zwischen wurden die Wege schmaler, und Sinikka lief
    immer weiter, als wolle sie nie mehr stehen bleiben.
    Nurmela hielt mit ihr Schritt, überholte sie sogar ab
    und zu, obwohl er den Weg nicht kannte. Sundström
    schlenderte neben Kimmo wie ein Spaziergänger.
    Joentaa dachte an das Gespräch, das sie geführt hat-
    ten, am Morgen, im Besprechungsraum. Sundström
    hatte den anderen die neue Situation erklärt. Die Bot-
    schaft war langsam in die Köpfe eingesickert. Dann
    hatte Grönholm, der gerne viel und laut redete, in tiefes
    Schweigen versunken auf seinem Stuhl gesessen. Der
    stille Heinonen hatte laut und deutlich Flüche ausgesto-
    ßen. Kari Niemi hatte sich gegen die Wand gelehnt und
    gelächelt. Nurmela hatte Sundström angestarrt, als
    könne er ihn durch intensives Fixieren dazu bewegen,
    das Gesagte doch noch zurückzunehmen. Aber Sund-
    ström hatte sich nicht irritieren lassen und seine Schil-
    derung der jüngsten Ereignisse mit dem Satz beendet:
    »Ich finde, das Mädchen hat Humor.«
    Dann waren sie zu den Vehkasalos gefahren. Sinik-
    kas Vater hatte die Tür geöffnet. Im Schlafanzug, mit ge-
    röteten Augen. Ruth Vehkasalo hatte neben Sinikka in
    der Küche gesessen, einen Arm um ihre Schulter gelegt.
    Vor
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