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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Quiz einem winterlichen
    Alpenpanorama gewichen.
    »Österreich«, hatte Kalevi gesagt. »Vor vier ... nein,
    vor fünf Jahren. Im Winter. Wie man sieht. Da hat Si-
    nikka ihren ersten Ski-Kurs gemacht.«
    Sie hatte Sinikka einen Abhang hinunterfahren

    sehen. Auf die Kamera zu und an ihr vorbei. In hohem
    Tempo. Im Schneepflug. Auf unsicheren Beinen, aber
    zuversichtlich.
    »Du erinnerst dich doch«, hatte Kalevi gesagt und
    vorgespult, als müsse er etwas Bestimmtes finden, aber
    es hatte nichts Bestimmtes gegeben, nur den Zwang, Si-
    nikka auf einem Bildschirm zum Leben zu erwecken.
    »Kalevi ...«, hatte sie gesagt, aber Kalevi war nicht an-
    sprechbar gewesen, hatte ziellos vor- und zurückgespult
    und immer wieder gesagt: »Moment noch. Gleich. Ich
    hab’s gleich. Warte.«
    Nach einer Weile war sie aufgestanden, hatte sich
    gewaschen und ins Bett gelegt. Sie hatte zwei der Tab-
    letten genommen, die der Arzt ihr verschrieben hatte.
    Unten war Sinikkas Stimme gewesen. Und Kalevis.
    Und ihre eigene. Ein wenig blechern, aber deutlich zu
    hören.
    Sie hatte im Bett gesessen.
    Später war Kalevi gekommen, hatte sich nur das
    Jackett und die Hose ausgezogen und sich neben sie
    gelegt.
    »Entschuldige«, hatte er gesagt. »Ich war wohl etwas
    ... hysterisch.«
    »Du musst dich nicht entschuldigen«, hatte sie geant-
    wortet.
    Dann hatten sie nebeneinander gelegen und auf den
    Schlaf gewartet, der schließlich doch noch gekommen
    war, zu Kalevi, zu ihr nicht. Obwohl sie zwei und später
    nochmal zwei dieser angeblich so starken Tabletten zu
    sich genommen hatte.
    Sie sah Kalevi an, sein von Schmerz und Müdigkeit
    gezeichnetes Gesicht. Selbst im Schlaf sah er noch müde
    aus.
    Sie stand auf, vorsichtig, um ihn nicht zu wecken,
    und ging hinunter in die Küche. Sie kochte Wasser. Sie
    hatte Durst auf einen Tee. Auf einen Kamillentee. Wenn
    man krank war, linderte Kamillentee die Schmerzen, das
    hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Vor einigen Jahren
    war sie gestorben. Ruth Vehkasalo war erleichtert, dass
    ihre Mutter nicht mehr miterleben musste, was passierte.
    Das Wasser brodelte. Sie wählte eine große weiße Tasse.
    Sie setzte sich an den Küchentisch. Der Dampf des
    heißen Wassers drang bis an ihr Gesicht. Sie würde
    einige Minuten warten müssen, bis sie den Tee trinken
    konnte.
    Sie sah aus dem Fenster.
    Draußen, auf der Treppe, saß Sinikka. Nicht sie
    natürlich. Sie hatte nur kurz den Eindruck gehabt, sie zu
    sehen. Es lag an den Tabletten. Irgendeine Wirkung hat-
    ten sie also, wenn schon nicht die, die sie haben sollten.
    Sie trat an das Fenster heran und sah sich das Mäd-
    chen näher an. Es blickte in Richtung der Straße, und
    Ruth Vehkasalo hoffte, dass es sich nicht umdrehen
    würde, denn dann würde es ihre neugierigen Blicke na-
    türlich bemerken. Das Mädchen sah Sinikka sehr ähn-
    lich. Es hatte sogar diese kurzen Haare, diese Jungen-
    frisur, die Kalevi verärgert hatte. Einen wahnsinnigen
    Streit hatten die beiden deshalb gehabt, und sie selbst
    hatte am Ende sogar Kalevis Partei genommen. Obwohl
    das eine schöne Frisur war. Es stimmte gar nicht, was
    Kalevi gesagt hatte ... dass man das Mädchen nicht
    mehr erkennen könne, dass man sie für einen Jungen
    halten werde, und ob es das sei, was sie wolle. Was für
    ein Blödsinn. Ruth Vehkasalo hatte sofort gesehen, dass
    auf der Treppe vor ihrem Haus ein Mädchen saß. Trotz
    der kurzen Haare.
    Das Mädchen hatte einen Schlafsack dabei. Und
    einen Rucksack, der über ihrer Schulter hing. Und eine
    Matte, die zusammengerollt war und neben dem Mäd-
    chen lag- Deshalb war es auch nicht Sinikka, denn diese
    Sachen besaß Sinikka nicht. Und Sinikka konnte es ja
    ohnehin nicht sein.
    Sie würde das Mädchen wegschicken müssen. Es
    ging einfach nicht, dass da ein Mädchen saß, das Sinikka
    so ähnlich sah, das Mädchen konnte natürlich nichts
    dafür, aber es war eine Qual, die nicht zu ertragen war, es war einfach zu viel. Sie würde es dem Mädchen sagen,
    ganz ruhig würde sie das Mädchen bitten zu gehen.
    Sie ging durch den Flur zur Haustür und spürte etwas
    in ihrer Kehle, ein beengendes Gefühl, das ihr das
    Atmen erschwerte. Sie öffnete die Haustür und wollte
    sie gleich wieder schließen, weil sie nicht atmen konnte
    und fürchtete, nicht sprechen zu können.
    Das Mädchen drehte sich um und sagte: »Ich bin wie-
    der da, Mama.«
    Die Frisur, dachte sie. Schöne Frisur. Der Schmerz in
    ihrer Kehle schien sich auszubreiten. Nach
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