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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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Mit einer eleganten Drehung kippt der Koffer über den Rand des Beckens und taucht ins Wasser. Im Grundeein perfekter Stapellauf, gefolgt jedoch von einer reichlich misslungenen Jungfernfahrt. Eisberg hin oder her: Schon jetzt hat die kleine Titanic gehörige Schlagseite, streckt hilflos ihr Heck in die Luft, während aus zahllosen Lecks die Luft in brodelnden Blasen entströmt. Noch ehe sich Putzer über die Kante lehnt und seine Hände danach ausstreckt, wird das Wrack bereits in die Tiefe gezogen, trudelt sanft an den Augen des Lemming vorbei und setzt auf dem Grund auf. Nur ein paar Luftbläschen steigen noch hoch, um – wie ein letzter, zynischer Gruß an den fassungslosen Bären – an der Oberfläche zu zerplatzen   …
    Und fassungslos ist er, der Bär. Er starrt dem Koffer hinterher, entgeistert, mit offenem Mund, schnellt dann hoch und stürzt sich wieder auf Pokorny, der gerade dabei ist, sich aufzusetzen. Pen Gwyn wirkt benommen, sein Kinn, seine Wangen sind blutverschmiert. Langsam hebt er jetzt die Arme, um sich gegen weitere Schläge des Bären zu schützen, doch Putzer hat anderes vor. Es bedarf keiner Prügel, um jemanden kaltzumachen   …
    Das Klebeband. Mit einer raschen Handbewegung holt Putzer es aus seiner Jackentasche. Packt Pokornys Arme und dreht sie nach hinten. Der Lemming kann nicht sehen, was hinter Pokornys Rücken passiert, aber er weiß es. Er weiß es nur zu gut.
    In Windeseile zieht Putzer das Band von der Rolle, umwickelt die Arme, den Körper, die Beine Pokornys, der sich nun nicht mehr zur Wehr setzt. Er arbeitet hektisch, der Bär, er wickelt kreuz und wickelt quer, bis das gesamte Band verbraucht und Pokorny bis zu den Füßen verpackt ist.
    «Was hat er vor   … Was hast du vor, du Schwein? Du wirst doch nicht   …»
    Doch. Er wird.
    Putzer tritt an den Beckenrand und schlüpft, so schnell er kann, aus seiner Jacke, seinen Schuhen, seiner Hose. SeinBlick ist dabei auf den Lemming gerichtet, entschlossen und grimmig.
Ihr seid die Verlierer
, sagt dieser Blick,
ihr habt keine Chance gegen mich
.
Wenn ich verrecke, Wallisch, wird dein Freund mich begleiten   …
Putzer spuckt aus, atmet durch. Reißt sich schließlich das Hemd vom Leib und springt.
    Fünf Grad hat das Wasser im Pinguinbecken. Der Lemming kann sehen, wie sich der weiße Körper des Bären zusammenkrampft. Aber er kämpft, Putzer kämpft, strampelt sich mit kräftigen Stößen nach unten, seinem vermeintlichen Schatz entgegen. Der aufgewühlte Wasserspiegel lässt Lichtflecken über die Wände tanzen, grün und türkis, beruhigende Farben, ein traumhaftes, friedliches Bild.
    Vier Meter fast muss Putzer in die Tiefe tauchen, bis er den Koffergriff zu fassen kriegt – er meistert diese Strecke mit Bravour. Der Rückweg aber macht dem Bären zu schaffen. Die Kälte, das Gewicht des schwarzen Kastens in seiner Hand, die er nun nicht mehr zum Paddeln verwenden kann, die zur Neige gehende Atemluft: All das scheint ihn nun doch zu überfordern. Auf halbem Weg lässt er den Koffer los und schießt nach oben. Klammert sich an der Kante des Beckens fest und ringt nach Luft. Dreht sich dann um und wagt einen weiteren Anlauf.
    «Lass gut sein, Putzer, ich bitt dich   … Du schaffst es ja doch nicht   …»
    Wieder taucht der Bär hinunter, tiefer noch als zuvor. Er packt den Koffer und geht auf dem Grund des Bassins in die Hocke, um sich mit den Beinen abzustoßen. Putzer kämpft, er kämpft um sein Glück, seine Zukunft, kämpft um den bleischweren Pflasterstein, als wäre er fünf Millionen wert   …
    Und diesmal gelingt es ihm. Er zerrt den Koffer an die Oberfläche, krallt sich an den Beckenrand und schiebt seine Last aus dem Wasser, bugsiert sie mit letzter – mit vorletzter – Kraft an Land: Der letzten Kraft bedarf er, um sich noch selber ins Trockene zu bringen   …
    Es fällt den Menschen meistens schwer, das Unbegreifliche zu akzeptieren, wie es ist; was jenseits ihres Horizontes liegt, das wird sogleich in das enge Korsett ihrer dürftigen Logik gezwängt. Hier reicht – nebenbei – die Religion der Wissenschaft die Hand: kein Phänomen, das nicht vermessen, bewertet, begründet wird, wenn auch auf unterschiedliche Weise. So wie etwa der Wissenschaftler eine plötzlich grassierende Seuche auf das Wirken winzig kleiner Wesen zurückführt, schreibt sie der Gläubige einem überaus großen zu.
    Obwohl weder theo- noch biologisch bewandert, kann auch der Lemming die folgenden Szenen nicht wertfrei
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