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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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und demütig hinnehmen; ganz wie von selbst begibt sich sein Geist auf die Suche nach Deutungen, nach zoologischen und exegetischen Erklärungen für den bizarren Gang der Ereignisse   …
    Zwei schwarze Füßchen durchqueren mit watschelnden Schritten den Raum. Vier weitere folgen, dann sechs, dann acht. Nacheinander lösen sich die Pinguine von der Wand und steuern auf die Glasfront zu. Ein stummer, kleiner Tross, eine seltsame, antarktische Heerschar. Bald sind es alle zwölf Vögel, die sich am Beckenrand sammeln, offenbar wenig beeindruckt von Putzer, der eben versucht, sich aus dem eisigen Wasser zu ziehen. Zu einer schier undurchdringlichen Phalanx zusammengedrängt, schiebt sich die Meute näher, bis ihre Schwimmhäute fast schon die Hände des Bären berühren, diese kalkweißen, blutleeren Hände, die auf dem feuchten Beton verzweifelt nach Halt suchen. Putzer sieht hoch, von Krämpfen gebeutelt, sein Körper, schon halb aus dem Wasser, erstarrt und sackt auf der Stelle nach unten, die Arme, die Finger, sie schrammen über den Boden, ein paarmal noch hektisch nach vorne geworfen, dann immer kraftloser, mutloser. Der Bär gleitet ab und sinkt in die Fluten zurück.
    Badezeit   …
    Die Pinguine rücken weiter vor, lassen sich dann – einer nach dem anderen – über die Kante kippen. Verblüffend, wie ihreplumpen, behäbigen Leiber im selben Augenblick an Eleganz gewinnen, da sie ins Wasser tauchen, wie diese tierischen Wanderer zwischen den Welten sich plötzlich in das verwandeln, was sie am wenigsten sind: in Fische. Atemlos folgt der Lemming ihrem ausgelassenen Tanz, ihren pfeilschnellen Schleifen, Pirouetten und Loopings. Doch mehr noch als ihnen gilt seine Aufmerksamkeit dem Star dieses Wasserballetts, der männlichen Ballerina, dem Tanzbären   …
    Zwei Meter vor den Augen des Lemming paddelt Putzer um sein Leben. Ein letztes Mal gelingt es ihm, den Wasserspiegel zu erreichen und Luft zu schöpfen, dann aber verlangsamen sich seine Bewegungen, und er sinkt gemächlich hinab, von den Pinguinen umkreist, umwirbelt wie eine sterbende Sonne von ihren Planeten. Sein Körper hat zu zittern aufgehört: Die Glieder sonderbar verrenkt, die wächsernen, blassblauen Lippen hinter die Zähne gezogen, so sieht er den Lemming jetzt an, halb ängstlich, halb müde, der Blick eines Menschen, dem in den Adern das Leben gerinnt.

29
    «Was denkst du, Pepi? Glaubst du, dass es der Spieltrieb war? Oder der Hunger? Das Plätschern des Wassers vielleicht, das mit der täglichen Fütterung einhergeht   … Wie hat das noch rasch geheißen? Genau: konditionierter Reflex, wie beim Pawlow’schen Hund. Ein Klingelton bedeutet Bratwurst für den Hund, also bedeutet das Plätschern Fisch für den Pinguin   …
    Es muss eine Erklärung geben, da bin ich mir sicher.
    Es muss.
    Nicht wegschauen, Pepi, schau her, schau mich an   … Was sagst du? Was willst du sagen?   … Dass es doch so etwas wie   … Rache gewesen sein könnte?
    Also ich weiß nicht, Pepi   … Vielleicht so eine Art Revierkampf,meinetwegen, das wär immerhin möglich. Ein ganz natürliches Abwehrverhalten, wie es den Tieren ja schon in die Wiege gelegt wird   …
    Und nicht nur den Tieren   …
    Die Klara müsste das eigentlich wissen   … Ich werde sie fragen, gleich morgen – nein:
Wir
, Pepi,
wir
werden sie fragen. Du musst die Klara sowieso   … Du musst sie unbedingt kennen lernen   … Was meinst du? Du glaubst, du bist ihr schon einmal begegnet? Drüben, bei den Gazellen? Schon möglich, Pepi, aber was du nicht weißt, ist, dass sie   … dass ich   … dass wir   …
    Jetzt lass die Augen offen, Pepi, schau mich an. Schau her, wie ich rot werd auf meine alten Tag’   … Erzähl mir was, Pepi. Lass die Augen offen und erzähl mir was. Schlaf jetzt nicht ein   …»
    Der Lemming kniet noch immer auf dem Boden des Besucherraums. Im Lauf der letzten Viertelstunde ist es ihm aber gelungen, näher an die Glaswand zu rutschen; Zentimeter um Zentimeter ist er mit den Knien den Beton entlanggeschrammt, indem er – ein ums andere Mal – seinen Rumpf nach vorn geworfen hat, mit reichlich Schwung und Mühe, aber wenigstens ohne Schmerzen: Völlig gefühllos sind seine Beine, taub bis über die Hüften.
    Eine Armlänge entfernt dümpelt die blassblaue Wasserleiche Bernhard Putzers, schaukelt sanft und friedvoll auf den Wellen. Die Pinguine haben ihm huldvoll das Becken überlassen; sie sind auf ihre angestammten Plätze im hinteren Teil
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