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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming
Autoren: Stefan Slupetzky
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des Geheges zurückgekehrt. In ihrer Mitte aber schickt sich Pen Gwyn dazu an, dem Bären in die ewigen Jagdgründe zu folgen.
    Kantig und fahl ist Pokornys Gesicht, von tiefen Furchen durchzogen. Sogar seine Nase hat ihre rötliche Färbung verloren. Er liegt auf der Seite, dem Lemming zugewandt, und kämpft den Kampf seines Lebens: den Kampf mit sich selbst, die große, entscheidende Schlacht gegen die Müdigkeit.
    «Du musst durchhalten, Pepi, du musst! Schon deshalb, weil   … Wo soll denn sonst der Stropek so rasch Ersatz für dich finden? Ich steh ganz sicher nicht zur Verfügung, ich werd deine Dienste nicht übernehmen, kommt gar nicht infrage. Jetzt überhaupt, grad jetzt, wo ich   … Also wo die Klara und ich   … Jetzt schau mich nicht so an   … Nein! Schau mich an, Pepi! Schau mich an!»
    Langsam senken sich Pokornys Augenlider. Kein Blinzeln mehr, kein Zucken trübt dieses Inbild des Wohlbehagens, der Ruhe. Der ewigen Ruhe   … Pokorny lächelt den Lemming an und schließt die Augen.
    «Nicht, Pepi! Hörst du? Schlaf mir jetzt nicht ein!»
    Der Lemming schlägt mit dem Kopf an das Panzerglas, rammt, so heftig er kann, seine Stirn dagegen. Einmal, zweimal, fünfmal – ein Klang wie von fernem Kanonendonner. Aber es hilft nichts: Pen Gwyn ist bereits auf dem Weg; er schlummert hinüber an einen nahen fernen Ort, wo John Coltrane, Cellini und Schiele, wo Noah und Putzer und Florian Hörtnagl schon auf ihn warten   …
    «Pepi, du Wichser! Mach jetzt nicht schlapp! Herrgott, Pokorny, du   … beschissener   … beschissener Versager!»
    Ein letzter Stoß gegen die Scheibe, dann resigniert auch der Lemming. Sein Gebrüll wird zum Schluchzen, zum Wimmern. Er sinkt in sich zusammen, schweiß- und tränenüberströmt.
    Und er vergräbt das Gesicht in den Händen.
    Das Gesicht. In den Händen.
    Ein Traum.
    Es muss ein Traum sein. Wie durch Nebelschlieren starrt er auf seine Handgelenke, an denen die Reste der Fesseln haften. Betastet die scharfe Kante des Klebebands, als würde er seinen Augen nicht trauen. Nein, nicht zerrissen ist es, nicht mit übermenschlicher Kraft zerfetzt, sondern einfach zerschnitten. Mit einem sauberen Schnitt durchtrennt.
    Es ist kein Traum. Der Lemming stützt die Hände auf den Boden und wirft sich herum, dreht seinen Körper zum Eingang hin. Ein Schatten huscht aus der Tür, ein gedrungener Umriss   … Der Weihnachtsmann, schießt es dem Lemming augenblicklich durch den Kopf, und er braucht selbst eine Weile, um den absurden Gedanken, die seltsame Assoziation zu verstehen: Zuerst ist da natürlich der polare Hintergrund. Wenn Knecht Ruprecht auch am Nordpol wohnt, so fühlen sich Leute seines Kalibers wahrscheinlich auch in der Antarktis daheim. Als Zweites dann das Geschenk, die größte Gabe, die der Lemming je erhalten hat: das unbeschreibliche, gewaltige Geschenk der Freiheit. Drittens – und das hat wohl letztlich den Ausschlag gegeben – das leise Geräusch, mit dem Santa Claus in der Dunkelheit verschwindet: ein helles Klimpern, Klirren und Klingeln; die Kennmelodie seines fröhlichen Rentiergespanns   …
     
    «Versenkt   …», lallt Pokorny mit seligem Lächeln. «Versenkt   …»
    Und er schlägt langsam die Augen auf.
    In den letzten Minuten ist alles sehr schnell gegangen – genauer gesagt: Es ist so schnell gegangen, wie es eben ging. Der Lemming hat sich in aller Eile seiner Beinfesseln entledigt, er hat sich das Klebeband von den Schenkeln gerissen und ist unverzüglich zum Gehege aufgebrochen, um Pokorny zu Hilfe zu eilen – unverzüglich, wenn auch nicht stehenden Fußes: Die fühllosen Beine sind ihm in einem fort unter dem Körper weggeknickt, sie wollten und wollten ihn einfach nicht tragen. Also ist er auf allen vieren aus dem Besucherraum gerobbt, hat im Schweinsgalopp das Polarium umrundet und – mit wüstem Kampfgebrüll – die Tür des Pinguinhauses aufgestoßen. Hat Pokorny beim Kragen gepackt und ihn – im Krebsgang jetzt – hinter sich hergezerrt, ihn hinausgeschleift, über Schwellen, Stock und Stein, egal,ganz egal, nur hinaus aus dem ewigen Eis in die lauschige Wiener Septembernacht.
    Und hier, im warmen Gras unter dem Sternenhimmel, hat er Pokorny dann ausgewickelt und aufgetaut, hat ihn gewalkt und geknetet, gerüttelt, frottiert und beschimpft, ihn schließlich geohrfeigt, so lange, bis er die eigenen Handflächen nicht mehr gespürt hat. Aber als Ausgleich sind ihm nun Blut und Gefühl in die Beine zurückgekehrt –
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