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Das Schweigen des Glücks

Das Schweigen des Glücks

Titel: Das Schweigen des Glücks
Autoren: Nicholas Sparks
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durch den Wald fortpflanzt, ließen sie sich nicht für immer unterdrücken.
    War sie irgendwie für all das verantwortlich?
    In solchen Momenten ging sie leise über den Flur in Kyles Schlafzimmer und sah ihn an, wie er schlief, mit einer weißen Decke um den Kopf geschlungen, ein Spielzeug in der Hand. Während sie ihn anblickte, war ihr Herz voller Kummer, aber sie empfand auch Freude. Einmal, als sie noch in Atlanta war, hatte jemand sie gefragt, ob sie Kyle bekommen hätte, wenn sie gewusst hätte, was ihnen beiden bevorstand. »Natürlich«, war ihre spontane Antwort gewesen. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das ehrlich war. Trotz seiner Probleme war Kyle ein Segen für sie. Würde sie eine Liste mit Gründen für und gegen ein Leben mit ihm aufstellen, dann war die Seite mit den Gründen dafür nicht nur länger, sondern auch bedeutungsvoller.
    Aber sie liebte ihn nicht nur seiner Probleme wegen, sie hatte auch das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Es gab an jedem einzelnen Tag Momente, in denen sie zu seiner Verteidigung eilen und ihn entschuldigen wollte, um anderen zu erklären, dass er zwar normal aussah, aber dass in seinem Gehirn etwas falsch geschaltet war. Meistens tat sie es jedoch nicht. Sie beschloss, dass andere Menschen zu ihrem eigenen Urteil über ihn kommen sollten. Wenn sie nicht verstanden, wenn sie ihm keine Chance gaben, dann war es ihr Verlust. Denn trotz all seiner Schwierigkeiten war Kyle ein wunderbares Kind. Er tat anderen Kindern nicht weh; er biss nicht und zankte nicht mit ihnen, er kniff sie nicht, er nahm ihnen ihre Spielsachen nicht weg, er ließ andere mit seinen spielen, auch wenn er es eigentlich nicht wollte. Er war ein liebes Kind, das liebste, das sie kannte, und wenn er lächelte… Gott, er war einfach hinreißend. Wenn sie zurücklächelte, dann lächelte er immer weiter und für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, alles sei in Ordnung. Sie sagte ihm, dass sie ihn liebe, und sein Lächeln wurde noch breiter, aber weil er nicht gut sprechen konnte, hatte sie manchmal das Gefühl, dass sie die Einzige war, die merkte, wie wunderbar er wirklich war. Und Kyle saß allein im Sandkasten und spielte mit seinen Autos, während die anderen Kinder ihn ignorierten.
    Sie machte sich ständig Sorgen um ihn, und obwohl alle Mütter sich Sorgen um ihre Kinder machten, wusste sie, dass es nicht dasselbe war. Manchmal wünschte sie sich, sie würde jemanden kennen, der auch ein Kind wie Kyle hatte. Dann würde wenigstens jemand verstehen. Wenigstens hätte sie dann jemanden, mit dem sie sprechen könnte, mit dem sie vergleichen könnte, an dessen Schulter sie sich lehnen könnte, wenn sie einmal weinen musste. Wachten andere Mütter auch mit der bangen Frage auf, ob ihr Kind sich irgendwann einmal mit einem anderen Kind anfreunden würde? Ob es je einen Freund haben würde?
Jemals?
Fragten sich andere Mütter auch, ob ihre Kinder auf eine reguläre Schule gehen oder Sport treiben oder zum Schulball gehen würden? Mussten andere Mütter zusehen, wie ihre Kinder ausgeschlossen wurden, nicht nur von anderen Eltern, sondern auch von anderen Kindern? Begleiteten ihre Sorgen sie auch jeden Tag von neuem, ohne dass ein Ende abzusehen war?
    Während sich ihre Gedanken entlang dieser vertrauten Windungen bewegten, fuhr sie mit dem alten Datsun jetzt über bekannte Straßen. Sie würde noch zehn Minuten brauchen. Um die nächste Kurve, über die Brücke, Richtung Edenton, dann links in die Charity Road. Danach noch eine Meile, und sie wären zu Hause. Es regnete nach wie vor und der Asphalt war schwarz und glänzend. Die Scheinwerfer warfen ihr Licht in die Ferne, das im Regen reflektierte – Diamanten, die aus dem Abendhimmel fielen. Sie fuhr durch das namenlose Sumpfland, ein geheimnisvolles Gebiet, so alt wie die Zeit und gänzlich unempfänglich für jede Entwicklung. Nur wenige Menschen lebten hier und sie wurden nur selten gesehen. Auf der Straße waren keine anderen Autos. Als sie mit ungefähr sechzig Meilen um die Kurve kam, sah sie es weniger als vierzig Meter vor sich auf der Straße stehen – ein voll ausgewachsenes Reh, den näher kommenden Scheinwerfern zugewandt, erstarrt in Unschlüssigkeit.
    Sie fuhr zu schnell, um anhalten zu können, trat aber instinktiv auf die Bremse. Sie hörte das Kreischen der Reifen, spürte, wie die Reifen auf der regennassen Straße ihre Haftung verloren und wie der Wagen nach vorn katapultiert wurde. Immer noch rührte das Reh sich nicht.
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