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Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Titel: Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend
Autoren: Charles Bukowski
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»Katherine«. Ich redete die beiden nie
mit ihren Namen an. Ich war »Henry junior«. Die Eltern
sprachen meistens deutsch miteinander, und anfangs tat ich das auch.
    Soweit ich mich erinnern kann, war das erste, was
ich meine Großmutter sagen hörte: »Ich werde euch alle
überleben!« Als sie das zum ersten Mal sagte, hatten wir uns
gerade zu Tisch gesetzt. Sie sollte es noch oft sagen, immer kurz vor
dem Essen. Essen schien sehr wichtig zu sein. Wir aßen
Kartoffelbrei mit Soße, vor allem sonntags. Wir aßen auch
Rinderbraten, Knackwurst und Sauerkraut, Erbsen, Rhabarber, Mohren,
Spinat, grüne Bohnen, Huhn, Fleischklößchen und
Spaghetti, manchmal auch Ravioli, gedünstete Zwiebeln und Spargel,
und jeden Sonntag gab es Erdbeerkuchen mit Vanille-Eis. Das
Frühstück bestand aus Toastbrot und Wurst, oder es gab
Waffeln oder warme Semmeln mit Rührei und Schinken. Und zu jedem
Essen kam Kaffee auf den Tisch. Doch am besten ist mir der
Kartoffelbrei mit Soße in Erinnerung geblieben und wie meine
Großmutter Emily jedes Mal sagte: »Ich werde euch alle
überleben!«
    Wir waren inzwischen in Amerika. Die
Großmutter besuchte uns oft. Sie kam mit der roten
Straßenbahn von Pasadena nach Los Angeles herein. Wenn wir sie
besuchten, was selten vorkam, nahmen wir immer den Model-T Ford.
    Ich mochte das Haus meiner Großmutter. Es
war klein und wurde überwuchert von dichten hohen
Pfeffersträuchern. Emily hielt sich einige Kanarienvögel, und
jeder hatte seinen eigenen Käfig. An einen Besuch erinnere ich
mich besonders deutlich. Gegen Abend machte sie die Runde und deckte
die Käfige mit weißen Tüchern ab, damit ihre Vögel
schlafen konnten. Während die Erwachsenen um den Tisch saßen
und sich unterhielten, setzte ich mich an ihr Klavier, hieb auf die
Tasten und hörte mir die Töne an, die herauskamen. Am besten
gefielen mir die Tasten ganz oben, wo die Töne so hoch waren, dass
man sie kaum noch unterscheiden konnte — es hörte sich an,
als würden Eiszapfen aneinander schlagen.
    »Wirst du wohl damit aufhören!« kam es laut von meinem Vater.
    »Lass den Jungen doch Klavier spielen«, sagte meine Großmutter. Meine Mutter lächelte.
    »Dieser Junge!« sagte meine
Großmutter. »Einmal wollte ich ihn aus seiner Wiege
hochheben und ihm einen Kuss geben, da hat er mich mitten auf die Nase
geboxt!«
    Dann unterhielten sie sich wieder, und ich spielte weiter Klavier.
    »Warum lässt du das Ding nicht mal stimmen?« fragte mein Vater.
    Dann hieß es plötzlich, wir würden bei meinem Großvater vorbeischauen. Er und meine
Großmutter lebten getrennt. Ich bekam zu hören, dass mein Großvater ein schlechter Mensch
war und aus dem Mund stank.
»Warum stinkt er aus dem Mund?«
Sie schwiegen.
»Warum stinkt er aus dem Mund?«
»Weil er trinkt.«
    Wir stiegen in den Model-T und fuhren zu meinem
Großvater Leonard. Als wir ankamen, stand er vor seinem Haus auf
der Veranda. Er war schon alt, aber er hielt sich sehr gerade. In
Deutschland war er Offizier gewesen, und nach Amerika war er gekommen,
weil er gehört hatte, dort seien die Straßen mit Gold
gepflastert. Das war nicht der Fall, also wurde er Chef einer Baufirma.
    Alle blieben im Wagen sitzen. Der Großvater
krümmte den Finger und winkte mich zu sich her. Jemand machte mir
die Wagentür auf, ich kletterte hinaus und ging auf ihn zu. Er
hatte langes schlohweißes Haar und einen ebensolchen Bart. Als
ich näher kam, sah ich, dass er blitzende blaue Augen hatte, denen
offenbar nichts entging. Ich blieb ein paar Schritte vor ihm stehen.
    »Henry«, sagte er, »du und ich, wir verstehen uns. Komm ins Haus.«
    Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ging
vollends hin und konnte nun seinen schlechten Atem riechen. Er stank
wirklich sehr aus dem Mund, aber ich hatte keine Angst vor ihm, denn er
war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Ich ging mit ihm
ins Haus. Er führte mich zu einem Sessel.
    »Komm, setz dich hin. Ich freue mich sehr, dass du mich besuchst.«
    Er ging nach nebenan. Als er nach einer Weile zurückkam, hatte er ein kleines Kästchen aus
Blech in der Hand.
»Das ist für dich. Mach es auf.«
    Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Deckel und
bekam das Kästchen nicht auf. »Komm«, sagte er,
»gib mal her.«
    Er lockerte den Deckel und gab mir das Kästchen zurück. Ich hob den Deckel, und da lag sein
Eisernes Kreuz, mit Halsband.
»Nein«, sagte ich, »das musst du behalten.«
»Nimm es ruhig«, sagte er. »Ist nur so ein sentimentales
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