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Das Schiff im Baum: Ein Sommerabenteuer (German Edition)

Das Schiff im Baum: Ein Sommerabenteuer (German Edition)

Titel: Das Schiff im Baum: Ein Sommerabenteuer (German Edition)
Autoren: Jutta Richter
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nennt das das Kurzzeitgedächtnis. Und dieses Kurzzeitgedächtnis hat bei Onkel Fiete ein paar Löcher bekommen, da fallen die Erinnerungen einfach durch und verschwinden!«
    »Krass«, sagte Ole.
    Tante Polly lächelte.
    »Ach, Ole, mein Junge, es macht das Leben ganz schön anstrengend, wenn man im nächsten Augenblick nicht mehr weiß, was vorher war. Stell dir vor, du willst das Fenster schließen, weil dir kalt ist. Du stehst auf, gehst ein paar Schritte und plötzlich bleibst du mitten im Zimmer stehen, weil du nicht mehr weißt, warum du aufgestanden bist.«
    »Ist es so schlimm bei Onkel Fiete?«, fragte ich.
    Tante Polly seufzte.
    »Es gibt schlechte Tage und es gibt gute Tage. Das ist ja so im Leben. Jetzt, wo ihr hier seid, geht es ihm eigentlich gut. Ich hätte es euch schon viel früher erklären müssen, aber ich hatte Angst, dass ihr dann nicht ge-blieben wärt.«
    »Blödsinn«, sagte Ole. »Es ist doch richtig gut hier. Wir müssen doch das Baumschiff noch fertig bauen! Ich will nicht weg! Und was sind schon ein paar Löcher im Gehirn! So Löcher habe ich auch! In der Schule vergesse ich immer die Mathematikaufgaben, obwohl ich daran denken will!«

 
    FÜNFZEHNTES KAPITEL,
     
    in dem ich nicht
    einschlafen kann
     
    Kaum hatte Oles Kopf das Kissen berührt, war er schon eingeschlafen.
    Ich konnte noch nicht schlafen. Ich war glockenwach. Der Kater Huckleberry hatte sich am Fußende des Bettes zusammengerollt und schnurrte leise. Unten in der Küche klapperte Tante Polly mit dem Geschirr. Im Dämmerlicht sah ich die Ölgemälde. Die Gischtkronen der Wellen leuchteten weiß.
    Immer wenn ich die Augen zumachen wollte, musste ich an Onkel Fiete denken und an die Löcher in seinem Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, ich hätte ein Loch im Gehirn, ein Loch, durch das meine Erinnerung fällt, so wie ein Geldstück aus meiner kaputten Jackentasche. Vielleicht hatte Ole recht, vielleicht hatte jeder irgendwo Löcher im Gehirn, vielleicht war das ganz normal.
    Denn beim Abendessen hatte Onkel Fiete uns wieder gekannt, er hatte sogar meinen Namen gewusst. Plötzlich hatte er ein Päckchen aus seiner Jackentasche gezogen und es Ole in die Hand gedrückt.
    »Die gehört dir, Kumpel!«, hatte er gemurmelt.
    Es war eine Mundharmonika. Sie war in vergilbtes Zeitungspapier eingewickelt, aber sie war funkelnagelneu und ungespielt. Oles Augen hatten vor Freude geleuchtet, als er sie auspackte.
    »Das ist ja megakrass, Onkel Fiete!«, hatte er gejubelt.
    »Ich weiß!«, hatte Onkel Fiete geantwortet. »Mega-krass!«
    Während Ole die ersten Töne aus seiner Mundhar- monika blies, hatte Tante Polly das dicke Fotoalbum geholt.
    Auf den ersten Fotos war Onkel Fiete noch ganz jung und Tante Polly hatte gar keine Runzeln im Gesicht. Sie waren ein schönes Paar. Er mit der Seemannskappe und einer Tabakspfeife im Mund, sie in einem Blumenkleid, mit einem Hut auf dem Kopf.
    »Das war in Hamburg auf unserer Hochzeitsreise«, hatte Tante Polly gesagt. »Erinnerst du dich, Fiete Feddersen, es war ein so furchtbar heißer Sommertag und wir haben eine Hafenrundfahrt gemacht.«
    Onkel Fiete hatte genickt.
    Auf den meisten Fotos jedoch war Mama zu sehen. Mama im Kirschbaum, Mama im Hühnerstall, Mama mit Zöpfen auf einer Schaukel, Mama mit einem Jungen in kurzen Hosen auf der Gartenbank.
    »Da war das Paulinchen genauso alt wie du, Katharina! Uli Bocksteet war ihre erste große Liebe.« Tante Polly kicherte. »Ach, war das eine Heimlichtuerei! Und schau mal, diese Ähnlichkeit!«
    Es stimmte, Mama hatte damals genauso ausgesehen wie ich jetzt.
    »Aber einen Freund habe ich nicht!«
    Ole hatte ganz schief und laut gespielt, wahrscheinlich war ihm das mit der großen Liebe peinlich.
    »Was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte Tante Polly. »Auf jeden Fall bist du deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«
    »Ja, wie aus dem Gesicht geschnitten«, nickte Onkel Fiete.
    Als wir das Album schließlich durchgeblättert hatten, war Onkel Fiete eingenickt, der Kopf war ihm wieder auf die Brust gefallen und Tante Polly hatte uns eine gute Nacht gewünscht.
    Jetzt war es unten still. Ich lauschte in die Dunkelheit. Ich hörte Oles Schlafatem und dachte über Mama und die große Liebe nach. Vielleicht hatte sie sich ja nur in Uli Bocksteet verliebt, weil sie keinen Bruder hatte. Schließlich kann man alleine kein Baumschiff bauen. Ich war plötzlich richtig froh, dass es Ole gab und ich mir keinen Uli Bocksteet suchen
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