Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
Vom Netzwerk:
der Schander- Familien, die mit verschiedenen geheimen Instrumenten und dem ehrenvollen Titel Weltwächter versehen wurden, beobachteten von nun an Tag und Nacht das Treiben der Weltlichen . Sie meldeten Zusammenrottungen, Aufruhr, Kriege und drohende Inspektionen des Kathedralendachs. Denn auch die Methoden der Weltlichen waren in jeder Hinsicht subtiler und gefährlicher geworden.
    Fünfundsiebzig Jahre später legten Metallvögel tödliche Eier in die Stadt. Ihr Feuer stieg so hoch, daß selbst im Sakriversum die Nächte nicht mehr dunkel wurden. Aber die Weltwächter hatten rechtzeitig gewarnt. Und wie so oft in der Vergangenheit überlebten die Schander in den Bleikellern der Kathedrale.
    Die Weltlichen bauten sich aus den Trümmern ihrer Stadt eine neue Metropole. Doch wiederum fünfundsiebzig Jahre später blieben die Häuser stehen, während die Menschen in einer einzigen Nacht aufhörten zu leben.
    Das ist vor nunmehr einundvierzig Tagen geschehen ...
    *
    Guntram spürte, wie sich der Geist Meister Wolframs von seinem eigenen löste. Benommen taumelte er einige Schritte zurück. Agnes legte ihren Arm um seine Schulter. Die Wucht und die verwirrende Fülle aller Informationen ließ Guntram zittern.
    Schwer atmend, beinahe keuchend wie nach einem Lauf durch die gesamte Länge des Sakriversums, stützte sich Guntram auf die Lehne eines grob zusammengezimmerten Holzstuhls.
    »Was hast du, Guntram?«
    Agnes trocknete besorgt die Schweißperlen von seiner Stirn. Sie nahm ihr Brusttuch dafür.
    »Fühlst du dich schlecht? Willst du dich hinsetzen?«
    Guntram schüttelte den Kopf.
    »Es geht schon wieder.«
    Meister Wolfram saß mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl. Erst jetzt bemerkte Guntram die anderen Familien.
    »So habe ich dich noch nie gesehen«, sagte Agnes leise. »Du glühst ja richtig!«
    Guntram nickte erschöpft.
    »Wenn du gehört hättest, was ich eben erfahren habe, würde es dir nicht anders gehen ...« »Aber ihr habt euch doch nur angesehen. Für eine ganz kurze Zeit!«
    »Ja«, seufzte Guntram, »aber mir ist, als hätte Meister Wolfram mich eben durch mehr als sieben Jahrhunderte gehetzt!«
    »Ohne zu sprechen?«
    Guntram nickte. Sie sah ihn mit merkwürdigem Blick an.
    »Er hat mir mitgeteilt, wer wir sind und woher wir kommen. Ich werde Tage brauchen, bis ich das alles innerlich verarbeitet habe!«
    » ... wenn dafür überhaupt noch Zeit ist«, sagte Agnes. Sie deutete auf die Mitglieder der anderen Familien. Sie kletterten an Seilen, Leitern, Flaschenzügen hoch, stapelten Tische, Stühle, Bettgestelle und Hausrat von den früheren Fluchtunternehmungen übereinander, bauten sich Brücken und kamen immer höher.
    »Wußtest du eigentlich, daß wir die Nachkommen eines Papstes sind?« lachte Guntram plötzlich.
    »Eines Papstes? Ich denke, wir stammen vom Baumeister der Kathedrale ab ...«
    »Das auch, aber schon der war nicht ganz ehelich! Damals muß eine ungeheure Revolution im Denken stattgefunden haben! Bereits im dreizehnten Jahrhundert hätte das Abendland das beginnen können, was dann erst fünfhundert Jahre später eingeleitet wurde. Aber die Kirche war dagegen. Vielleicht ist das der Grund, warum der Baumeister unserer Kathedrale die Ahnen unseres Volkes vor der Welt versteckte. Er muß gewußt haben, wann der Endpunkt für die Weltlichen, die Kirchen und die Freidenker kommen würde ...«
    »Du meinst, daß alles längst vorausbestimmt war?« fragte Agnes.
    Guntram nickte.
    »Ich verstehe noch nicht alles«, sagte er. »Aber ich weiß jetzt, daß es im Sakriversum und in uns ein Geheimnis gibt, von dem die Existenz aller Menschen abhängt. Es muß etwas mit der Weltenseele und dem Urstoff der Schöpfung zu tun haben ...«
    Eine der Frauen fing an zu singen. Es war Meta.
    »Maria durch ein’ Dornwald ging«, sang sie mit klarer, glockenheller Stimme, »Kyrieleison ...«
    Dietleib und Meta lebten nicht nach dem alten Gesetz. Meta stammte ursprünglich aus der Familie von Meister Heinrich, die sich aufs Brotbacken und die Herstellung von Kuchen verstand.
    Auch das dritte Erwachsenenpaar im Alchimisten-Clan führte keine echte Geschwisterehe. Seit einigen Jahrzehnten, genauer gesagt, seit den Feuernächten, die die Stadt zum erstenmal fast vollkommen zerstört hatten, stimmten die alten Fruchtbarkeitsregeln nicht mehr. Die gleichmäßige Verteilung männlicher und weiblicher Nachkommen ließ sich nicht mehr so planen wie früher. Es war, als hätten die guten Kräuter ihre Kraft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher