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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament
Autoren: Tim Willocks
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eine halbe Meile über den Großhafen hinweg, an der seeseitigen Spitze der dritten Halbinsel, lag die Festung St. Elmo. Dies war der abgelegenste Außenposten, der, einmal belagert, nur noch über das Wasser zu erreichen sein würde.
    Überall waren die Vorbereitungen im Gange. Befestigungsarbeiten und militärischer Drill. Gräben und Wälle. Ernten, Einsalzen und Anlegen von Vorräten. Polieren, schleifen und beten.Feldwebel brüllten ihre Pikenträger an. In den Waffenschmieden dröhnte es. In den Kirchen läuteten die Glocken, Tag und Nacht beteten die Frauen zur Gottesmutter. Acht von zehn Verteidigern der Festungen waren einfache Bauern mit selbstgemachten ledernen Rüstungen und Speeren, und doch, wenn sie die Wahl hatten zwischen Sklaverei oder Tod, dann zögerten die stolzen und kühnen Malteser keinen Moment. Über der ganzen Stadt lag eine Stimmung von grimmigem Trotz.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte Starkey eine Bewegung und schaute auf. Zwei schwarze Falken stürzten sich durch den türkisblauen Himmel auf die Erde zu, als müßte ihr Fall ewig andauern. Dann schwenkten sie einträchtig ab und stiegen gemeinsam wieder auf, schwebten ohne sichtliche Anstrengung weiter zum westlichen Horizont. In jenem unbestimmten Augenblick, als sie mit dem Dunst verschmolzen, stellte sich Starkey vor, es seien die letzten Vögel auf Erden. Eine Stimme vom anderen Ende des großen Raumes riß ihn aus seiner Träumerei.
    »Wer den Krieg nicht kennt, der kennt auch Gott nicht.«
    Dieses unheilige Motto hatte Starkey schon oft gehört. Stets rührte es sein Gewissen an. Nun erfüllte es ihn mit dunklen Vorahnungen. Er fürchtete, daß er schon bald herausfinden würde, wie wahr dieser Satz war. Er wandte sich vom Fenster ab und gesellte sich wieder zu der Besprechung.
    Jean Parisot de la Valette, der einundsiebzigjährige Großmeister des Ordens, stand zusammen mit dem großen Obersten Le Mas an einem Tisch mit Landkarten, hoch aufgeschossen und streng, in seinem langen schwarzen Ordensgewand mit dem Johanniterkreuz. Fünfzig Jahre des Kampfes auf hoher See hatten seine Persönlichkeit geschmiedet. Er wußte, wovon er sprach. Mit zwanzig Jahren hatte er die blutige Tragödie von Rhodos überlebt, als die Überreste des Ordens auf den letzten verbliebenen Schiffen über das Meer geflohen waren. Mit sechsundvierzig hatte er ein Jahr als Sklave auf der Galeere von Abd-ur-Rahman überlebt. Während andere sich um ein hohes Amt im Orden – und auf sicherem Land – bemüht hätten, hatte sich La Valette für Jahrzehnte endloserPiraterie entschieden, stets mit Tabak die Nase gegen den Gestank verstopft. Seine Stirn war hoch, Haar und Bart waren inzwischen weiß. Die Sonne hatte ihm die Augen zu einem steinernen Grau gebleicht. Sein Gesicht schien aus Bronze gegossen zu sein. Für ihn war die Nachricht von der Invasion wie ein Jungbrunnen. Er hatte sich dem Kampf gegen den drohenden Untergang mit der Leidenschaft eines jungen Liebenden hingegeben. Er war unermüdlich. Er war zutiefst beglückt. Er war inspiriert wie einer, dessen Haß nun endlich ohne Mitleid und Zurückhaltung frei toben durfte. Was La Valette haßte: den Islam und all seine Missetaten. Was er liebte: Gott und den Orden. Nun, in seinen letzten Lebenstagen, hatte Gott den Wächtern des Glaubens den Segen des Krieges geschenkt. Krieg als Offenbarung des göttlichen Willens. Krieg, rein und ohne Fesseln. Krieg, den man bis zum bitteren Ende ausfechten würde.
    Wer den Krieg nicht kennt, der kennt auch Gott nicht? Christus hatte nie, mit keinem Wort den Einsatz von Waffen gutgeheißen. Es gab Zeiten, in denen Starkey meinte, daß La Valette verrückt war. Verrückt auf die Aussicht ungeheuerlicher Grausamkeiten. Verrückt im Wissen, daß die Macht Gottes durch ihn hindurchströmte. Verrückt, denn wer außer einem Verrückten konnte das Schicksal eines ganzen Volkes in der Hand halten und mit solchem Gleichmut das Metzeln von Tausenden vorhersehen? Starkey ging quer durch das Zimmer zu den beiden alten Kameraden, die sich über den Kartentisch hinweg unterhielten.
    »Wieviel länger müssen wir noch warten?« fragte Oberst Le Mas.
    »Zehn Tage? Eine Woche? Vielleicht weniger«, antwortete La Valette.
    »Ich dachte, wir hätten noch einen Monat?«
    »Da haben wir uns geirrt.«
    La Valettes Arbeitszimmer spiegelte seine strenge Persönlichkeit wider. Verschwunden waren die Gobelins, Porträts und feinen Möbel seiner Vorgänger. Statt dessen Stein, Holz, Papier, Tinte,
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