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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament
Autoren: Tim Willocks
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legte er die Klinge. Anschließend beobachtete er, wie sich die Farbe langsam im Stahl ausbreitete, drehte die Klinge mehrmals herum, damit die Hitze gleichmäßig blieb. Als die Schneiden so hell glühten wie frisches Stroh, zog er die Klinge mit der Schmiedezange heraus und stieß sie in einen Eimer mit feuchter Erde. Beißende Dämpfe stiegen auf, und der Geruch machte ihn beinahe trunken. Bei diesem ersten Abschrecken, so hatte es ihm der Großvater beigebracht, erhob die Klinge im Augenblick ihrer Geburt Anspruch auf die Macht aller vier Elemente: Erde, Feuer, Wasser und Luft. Eine solche Klinge würde vieles überdauern. Mattias schichtete in der Esse wieder das Bett aus Holzkohle auf, legte die Asche darüber und nahm den Deckel vom Gefäß für die zweite Abschreckung, einem Eimer mit Pferdepisse. Er hatte ihn erst am Vortag gefüllt, vom schnellsten Pferd des Dorfes gesammelt.
    »Darf ich zuschauen, Mattie?«
    Einen Augenblick lang ärgerte ihn die Stimme seiner Schwester. Das war seine Arbeit, sein Ort, ein Ort für Männer, nicht für fünfjährige Mädchen. Aber Britta betete ihn an … Mattias bemerkte, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn sie ihn anschaute. Sie war die Jüngste in der Familie. Der Tod zweier kleiner Brüder blieb Mattias stets im Gedächtnis. Vielleicht weniger ihr Tod als die Erinnerung an den Schmerz seiner Mutter und die stumme Trauer seines Vaters. Als er sich zu seiner Schwester umdrehte, war sein Zorn schon verraucht, und er lächelte, wie er Britta in der Tür stehen sah und ihre Silhouette sich puppenhaft vor dem ersten grauen Licht der Morgendämmerung abzeichnete. Sie trugein Nachthemd und Holzpantinen und umfaßte die dünnen Ärmchen mit den Händen, weil sie vor Kälte zitterte. Mattias zog seinen Mantel aus, ging zu ihr und legte ihr den Stoff um die Schulter. Dann hob er sie auf die Salzsäcke bei der Tür.
    »Von da aus darfst du zuschauen, solange du nicht ans Feuer herangehst.« Dieser Handel behagte ihr offensichtlich nicht, aber sie muckte nicht auf. »Schlafen Mama und Greta noch?« fragte er.
    Britta nickte. »Ja, aber die Hunde im Dorf bellen. Da habe ich Angst bekommen.«
    Mattias lauschte. Tatsächlich, von unten im Tal ertönte ein Knurren und Bellen. Er war so auf das Knistern des Feuers in der Esse konzentriert gewesen, daß er nichts davon gehört hatte.
    »Sie müssen einen Fuchs gefunden haben«, sagte er.
    »Oder einen Wolf.«
    Er lächelte. »Wölfe kommen nicht mehr hierher.«
    Mattias wandte sich wieder seiner Klinge zu. Sie war nun so abgekühlt, daß man sie anfassen konnte. Er wischte sie sauber, legte sie noch einmal auf das Feuer. Er war beinahe versucht, erneut den Blasebalg zu betätigen, denn er liebte es, wie die Kohlen dann zu wildem Leben erwachten. Doch wenn die Temperatur zu schnell anstieg, wurde der Stahl vielleicht im Kern geschwächt. Also widerstand er der Versuchung.
    »Warum kommen die Wölfe nicht mehr hierher?«
    Mattias drehte die Klinge um. »Weil sie sich vor uns fürchten.«
    »Warum fürchten sich die Wölfe vor uns?«
    Die Kanten liefen in einem dunklen Braun an, wie Rehe im Herbst. Er packte die Klinge mit der Zange, drehte sie noch einmal um. Ja, die Farbe war noch gleichmäßig, breitete sich weiter aus, mit einem tiefen Violett am Grat der Klinge und am Heftdorn. Nun war es Zeit für die zweite Abkühlung. Er zog die Klinge aus der Esse und stieß sie in den Urin. Das Zischen war wie eine Explosion, und er mußte das Gesicht von dem beißenden Dampf abwenden. Sogleich begann er ein Ave Maria zu beten. Auf der Hälfte fiel auch Britta ein, stolperte aber über die lateinischen Wörter. Mattias betete allein weiter, maß die Zeit für dieAbkühlung am Takt des Gebets. Als er fertig war, zog er den rauchenden Stahl aus dem ätzenden Gebräu, steckte ihn wieder in den Aschenkasten und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    Die zweite Härtung war vollendet. Mattias hoffte, daß sie gut genug verlaufen war. Der Urin würde auf das Metall übergehen und ihm seine Schärfe bewahren. Vielleicht würde auch die Leichtfüßigkeit des Pferdes den Dolch auf seinem Weg zum Ziel beschleunigen. Für das dritte Härten, den magischsten Vorgang, würde Mattias die glühende Klinge auf das üppige grüne Gras beim Gemüsegarten tragen und es dort mit dem frisch gefallenen Morgentau abschrecken. Kein Wasser war reiner, denn niemand hatte diese Tropfen je fallen sehen, selbst wenn er über Nacht Wache gestanden hätte. Manche glaubten, es
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