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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament
Autoren: Tim Willocks
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seien die Tränen, die Gott über seine schlafenden Geschöpfe vergoß. Durch diesen kühlenden Tau würde der Geist des Berges selbst in das Herz des Dolches eingehen. Mattias schob die Härtezange in die Kohlen und fachte das Feuer an, bis die Enden gelbrot glühten.
    »Mattie, warum fürchten sich die Wölfe vor uns?«
    »Weil sie Angst haben, daß wir sie jagen und töten.«
    »Warum sollten wir das tun?«
    »Weil sie unsere Schafe reißen. Und weil ihre warmen Felle uns vor dem Winter schützen. Deswegen trägt doch Vater einen Wolfspelz.«
    »Hat er den Wolf getötet?«
    Kristofer hatte ihn tatsächlich getötet, aber diese Geschichte war nichts für ein kleines Mädchen. Mattias wischte die Asche von der Klinge und legte sie ans Feuer. Nun mußte er der Klinge seine größte Aufmerksamkeit widmen. Er sagte: »Warum singst du mir nicht ein Lied vor? Dann wird dein Lied zu einem Teil des Stahls, und dann ist es genauso deine wie meine Klinge.«
    »Welches Lied? Schnell, Mattie, welches Lied?«
    Er schaute ihr ins Gesicht und sah, wie begeistert sie war. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er mit diesem Vorschlag die Klinge auf immer dazu bestimmt hatte, ihre zu sein, zumindest in ihren Gedanken.
    »Der Rabe«, sagte er.
    Dieses Lied sang ihre Mutter für sie, und Britta hatte große Verwunderung erregt, als sie mit nur drei Jahren alle Strophen mit ihrer Piepsstimme mitgeträllert hatte. Das Lied handelte von einem Prinzen, den eine eifersüchtige Stiefmutter in einen Raben verzaubert hat, und von der Prinzessin, die das Leben ihres einzigen Kindes aufs Spiel setzt, um ihn zurückzuverwandeln. Trotz aller finsteren Taten war es schließlich doch eine glückliche Geschichte, wenn Mattias auch nicht mehr so daran glaubte wie früher. Britta jedoch sah noch jedes Wort als Wahrheit an. Sie begann mit ihrer hohen, bebenden Stimme zu singen. Mattias war froh, daß er sie um das Lied gebeten hatte, denn sein Vater Kristofer hatte ihm gesagt, daß niemand das Geheimnis des Stahles vollständig zu ergründen vermochte. Wenn eine Klinge, die während eines Schneesturms geschmiedet wurde, anders war als eine in der Sonne geschmiedete – und wer wollte das bezweifeln? –, dann würde doch gewiß auch ein so süßer Klang wie Brittas Gesang seine Spuren hinterlassen.
    Während seine Schwester sang, legte Mattias sein ganzes Können in die letzte Härtung. Er schreckte die Griffe der Härtezange ab und zog ihre glühenden Backen über den Grat des Dolches. Als der Grat ein tiefes Dunkelblau angenommen hatte, arbeitete er am Heftdorn und am Ricasso weiter, bis sie noch dunkler waren. Der äußersten Spitze der Klinge gab er eine blaßblaue Temperierung, so daß sie aussah wie der Himmel am frühen Neujahrsmorgen. Derweil er arbeitete, sang Britta ihr Lied, der Rabe gewann das Herz der Prinzessin, und in seinem Herzen wußte Mattias, daß sein Vater auf diese Klinge stolz sein würde. Er ließ die erhitzte Zange ins Wasser fallen und nahm eine kalte auf. Wieder schichtete er die Holzkohlen auf, verteilte die Asche darauf und legte die Klinge auf die Kohlen, die Spitze auf einen rohen Klumpen Holzkohle. Sobald die Schneiden in der Haarfarbe seiner Mutter erglühten – in einem wilden Bronzeton –, würde Mattias die Klinge in den Tau tragen und den Augenblick der Wahrheit erleben. Er beobachtete den Stahl, als hinge sein Platz imewigen Leben davon ab. Dann plötzlich fiel ihm auf, daß seine Schwester aufgehört hatte zu singen.
    Über die Schulter rief er: »Britta, sing weiter! Wir sind beinahe fertig.«
    Tatsächlich: Die Farbtöne änderten sich, stiegen auf wie das Gold der Alchemisten. Auf einmal wußte Mattias, daß die Stimme seiner Schwester ihm helfen würde, eine wahrhaftig ganz außergewöhnliche Klinge zu schmieden, doch noch immer blieb sie stumm. Er wandte sich vom Feuer ab, um Britta anzuschauen. Seine Hände umklammerten noch die Härtezange.
    »Wir sind beinahe fertig«, wiederholte er.
    Seine Schwester lag auf dem Boden.
    Ihr Schädel war eingeschlagen, zerschmettert wie ein Weinkrug. Sein Mantel war ihr von der Schulter gerutscht. An ihrem Nachthemd klebte eine dunkle Flüssigkeit, die wie Sirup durch ihr hellblondes Haar rann.
    Über sie gebeugt, mit der gleichgültigen Miene eines Bauern, der einen Maulwurf mit dem Spaten erlegt hat, stand ein junger Mann mit schütterem Bart. Er war in bunte Lumpen gehüllt, und auf dem Kopf trug er eine schmutzige grüne Kappe. An der Seite hielt er ein kurzes
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