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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel
Autoren: John Katzenbach
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verschatteten Gesichter.
    Doch er entdeckte nichts als den üblichen Nebelschleier: Langeweile, Geistesabwesenheit, den einen oder anderen Anflug von Interesse. Er suchte nach Hass. Nach Wut.
    Wo bist du?, fragte er stumm. Wer von euch will mich töten? Nach dem Warum fragte er nicht. Das Wieso und Warum war nach so vielen Toten nicht mehr wichtig und trat hinter der Häufigkeit und Alltäglichkeit zurück.
    Das rote Licht unter seinem Pult blinkte weiter. Mit dem Zeigefinger drückte er ein halbes Dutzend Mal die Notsignaltaste. Sie würde bei der Campus-Polizei einen Alarm aus lösen, die dann automatisch ein Sondereinsatzkommando schickte. Allerdings nur, wenn das System funktionstüchtig war, was er durchaus bezweifelte. In der Herrentoilette hatte am Morgen keine der Toiletten funktioniert, und er hielt es für unwahrscheinlich, dass die Universität eine komplizierte elektronische Verbindung instand halten konnte, wenn schon die sanitären Anlagen sie überforderten.
    Er redete sich gut zu: Du schaffst das schon. Wäre ja nicht das erste Mal.
    Er ließ weiter den Blick über den Hörsaal schweifen. Erwusste, dass der eingebaute Metalldetektor, der den Hintereingang zum Hörsaal erfasste, zu Funktionsstörungen neigte, andererseits vergaß er nicht, dass in diesem Semester ein Kollege dieselbe Warnung missachtet hatte und von zwei Schüssen in die Brust getroffen worden war. Der Mann hatte etwas von den schriftlichen Hausaufgaben für den kommenden Tag gemurmelt, während er auf dem Flur verblutete und ein geistesgestörter Studienabsolvent dem sterbenden Lehrer Obszönitäten ins Gesicht brüllte. Eine Fünf in einer Zwischenprüfung war offensichtlich der Grund für den Gewaltausbruch gewesen – eine Erklärung, die nicht mehr oder weniger plausibel erschien als irgendeine sonst.
    Clayton gab, um eine solche Konfrontation zu vermeiden, grundsätzlich keine Noten, die schlechter waren als Drei. Zu sterben, weil man einen Studenten im zweiten Jahr hatte durchfallen lassen – das war es nicht wert. Studenten, die er eindeutig am Rand einer mörderischen Psychose diagnostizierte, bekamen bei ihm automatisch eine Drei plus oder Zwei minus für ihre Arbeiten – ob sie nun welche einreichten oder nicht. Dem Sekretariat des Psychologischen Instituts war bekannt, dass jeder Student, dem Professor Clayton eine von diesen Noten gab, als Bedrohung einzustufen war, und so meldeten sie grundsätzlich jeden solchen Fall dem Campus-Wachdienst.
    Im letzten Semester kam er auf drei, alle in seinem Einführungskurs über Verhaltensstörungen. Die Studenten hatten den Kurs in »Mordsspaß« umgetauft, was vielleicht nicht ganz die Stimmung traf, aber doch einigermaßen das Thema.
    »… mit dem Opfer eins zu werden, ist letztlich Ziel und Zweck des Mordes. Dabei ist eine seltsame Mischung aus Hass und Begierde im Spiel. Oft wünschen sie sich, was sie hassen, und hassen, was sie sich wünschen. Außerdem geht esum Neugier und Faszination. Eine explosive Mischung aus widerstreitenden Gefühlen. Dies wiederum führt zu Perversion und zu Mord als Ventil …«
    Machst du das gerade durch?, fragte er die unsichtbare Quelle der Bedrohung.
    Unter dem Tisch packte er mit der Hand den Griff der halbautomatischen Pistole, die er dort in einer Vorrichtung untergebracht hatte. Er legte den Zeigefinger an den Abzug und löste zugleich mit dem Daumen die Sicherung. Für einen Moment wurde er wütend. Der Antrag auf Haushaltsmittel zur Anschaffung von kugelsicheren Westen war beim Senat nicht durchgegangen, und der Rektor, der sich auf Kürzungen berief, hatte es eben erst abgelehnt, Gelder zu bewilligen, um in Hörsälen und Übungsräumen die Überwachungskameras zu modernisieren. Allerdings sollte in diesem Herbst das Footballteam neue Trikots bekommen, und der Trainer der Basketballmannschaft durfte sich schon wieder zu einer Gehaltserhöhung beglückwünschen – nur der Lehrkörper wurde wie immer ignoriert.
    Das Pult bestand aus Panzerstahl, und das Dezernat für Bauund Haustechnik hatte ihm versichert, es sei allem gewach sen außer durchschlagskräftiger, Teflonummantelter Munition. Natürlich wusste er so gut wie jedes andere Fakultätsmitglied, dass solche Kugeln in jedem x-beliebigen Sportgeschäft in Gehweite der Universität zu bekommen waren. Auch Sprengladungen und Dumdumgeschosse, solange man bereit war, die gepfefferten Preise im Umfeld des Campus zu zahlen.
    Jeffrey Clayton war noch ein gutes Stück von der Lebensmitte,
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