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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel
Autoren: John Katzenbach
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funktionieren. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie ihr Können in Sachen Rätseln vor allem ihrer Geduld verdankte und Erfolg haben würde, wenn sie nur einfach methodisch heranging. Also tauchte sie die Finger ins Eiswasser, rieb sich die Nässe über Stirn und Hals und machte sich bewusst, dass kein Mensch ihr eine verschlüsselte Nachricht schickte, wenn er nicht wollte, dass sie die Botschaft auch entwirrte. Sonst würde er sie gar nicht erst schicken.
    Es kam immer wieder vor, dass einer der regelmäßigen Leser ihrer Rätsel ihr eine Nachricht schickte, wenn auch stets an ihr Pseudonym, ihre Büroadresse. Außerdem gaben diese ausnahmslos ihre eigene Adresse an – oft wiederum verschlüsselt –, da es diesen Leuten meistens viel mehr darum ging, ihr zu zeigen, wie brillant sie waren, als um die Chance, sie persönlich zu treffen. Über die Jahre hatte es tatsächlich ein paar Fälle gegeben, bei denen sie hatte passen müssen, doch solchen Niederlagen folgten jedes Mal Erfolge.
    Sie starrte wieder auf die Worte.
    Sie erinnerte sich an etwas, das sie einmal gelesen hatte, ein Sprichwort, eine Art Weisheit, die von Familiengeneration zu Familiengeneration weitergegeben wurde.
Wenn du wegrennstund du hörst Hufschläge hinter dir, dann gehe besser davon aus, dass es ein Pferd und kein Zebra ist.
    Kein Zebra.
    Mach’s nicht kompliziert, schärfte sie sich ein. Such nach der einfachen Antwort.
    Also gut. Die erste Person. Die erste Person Singular. Demnach
Ich
.
    »Die erste Person besitzt …«
    Erste Person plus besitzanzeigendes Verb?
    Ich habe

    Sie beugte sich über ihren Block und nickte. »Wer sagt’s denn«, murmelte sie leise.
    »… was die zweite Person versteckt hat.«
    Die zweite Person wäre dann
du
. Oder
dir

dich
.
    Sie schrieb:
Ich habe dich
. Sie nahm sich das Wort »versteckt« vor.
    Einen Moment lang dachte sie, es läge an der Hitze, dass sie sich schwindelig fühlte, und sie atmete einmal tief durch, während sie nach dem Glas Wasser griff.
    Das Gegenteil von verstecken wäre finden.
    Sie betrachtete ihre Notiz und sagte laut:
    »
Ich habe dich gefunden
…«
    Die Motte an der Scheibe ließ endlich von ihren verzweifelten Selbstmordversuchen ab und taumelte auf die Fensterbank, wo sie kurz vor ihrem Tod noch einmal zuckte.
    Sie war allein. Eine nie da gewesene, plötzliche Woge der Angst brandete in die überhitzte Stille, und sie schnappte nach Luft.

1. KAPITEL
Professor Tod
     
    Seine dreizehnte Vorlesung in diesem Semester ging dem Ende entgegen, und er war nicht sicher, ob irgendjemand seinen Ausführungen folgte. Er blickte zu der Wand, in der sich früher einmal ein Fenster befunden hatte, doch heutzutage war es vernagelt und übertüncht. Er fragte sich für einen Moment, ob draußen ein klarer Himmel auf ihn wartete. Wohl eher nicht. Jenseits der grünen Wände des Hörsaals vermutete er eine grau verhangene Welt. Er wandte sich wieder seinem Kolleg zu.
    »Haben Sie sich eigentlich schon einmal gefragt, wie Menschenfleisch schmeckt?«, fragte er unvermittelt.
    Jeffrey Clayton, ein junger Mann, der sich betont unmodisch gab, so dass er anonym und farblos wirkte, dozierte über den eigentümlichen Hang eines bestimmten Typs von Serienkiller zum Kannibalismus, als er aus dem Augenwinkel heraus das stumme Alarmsignal unter seinem Pult rot aufblinken sah. Er unterdrückte den Anflug von Angst, der ihm in die Kehle stieg, und schaffte es, seine Ausführungen nur kurz zu unterbrechen, während er sich von der Mitte des kleinen Podests hinter sein Pult begab. Langsam glitt er auf seinen Stuhl.
    »Und es ist kaum zu übersehen« – er tat, als blätterte er in seinen Notizen –, »dass der Drang, das Opfer zu verschlingen, seine Vorläufer in primitiven Kulturen hat, wo der Glaube herrscht, dass man sich die Stärke oder Tapferkeit einesFeindes einverleibt, indem man zum Beispiel sein Herz isst, oder seine Intelligenz durch den Verzehr seines Hirns. Etwas auffällig Ähnliches findet man bei dem Mörder, der eine Obsession für die Eigenschaften seines Opfers entwickelt. Er sehnt sich danach, mit der Zielperson eins zu werden…«
    Während er sprach, glitt seine Hand behutsam unter den Tisch. Misstrauisch ließ er den Blick über die Reihen der etwa hundert Studenten schweifen, die im schwach erleuchteten Hörsaal vor ihm unruhig auf ihren Stühlen saßen. So wie ein Kapitän allein auf hoher See den dunklen Ozean nach einer vertrauten Boje absucht, starrte er in die
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