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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition)
Autoren: Nicole Steyer
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nicht kalt war.
    Langsam ging sie durch die Küche, trat auf den Hof und hob ihre Hand zum Schutz vor der Sonne über die Augen. Als sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatte, sah sie Irmgard. Sie lag auf dem Boden. Die Hühner tippelten eifrig um sie herum und pickten nach dem Futter, das aus dem Eimer gefallen war, der neben der alten Magd lag. Irmgards Blick ging ins Leere, ihre Gesichtszüge wirkten erschlafft. Vorsichtig trat Marianne näher. Der Tod hatte für sie nichts Erschreckendes. Sie sank neben die alte Frau und betrachtete ihr Gesicht. Das Antlitz, das sie jeden Tag gesehen hatte, die Augen, die jetzt ausdruckslos waren, hatten immer über sie gewacht und oft Milde und Nachsicht gezeigt. Selbst jetzt, im Angesicht ihres Schöpfers, lächelte Irmgard ein wenig. Marianne lächelte ihr zu und vergaß für einen Moment den Hof und alles um sich herum.
    In ihrer Erinnerung sah sie plötzlich ihre alte Küchenmagd Alma vor sich. Die gute alte Alma, die nicht wiedergekommen war.
    Sie sah ihren kleinen Bruder, wie er im Bettchen gelegen hatte, die Augen geschlossen, die Lippen rot. Er hatte ausgesehen, als würde er schlafen, so friedlich und ruhig. Der Tod hatte ihm nicht seinen Liebreiz genommen. Alma hatte immer gesagt, der liebe Gott würde aus Kindern Engel machen und sie deshalb im Schlaf holen. Warum er sie selbst damals nicht geholt hatte, hatte sie nie verstanden. Sie wäre so gern ein Engel geworden, an der Seite ihres Bruders.
    Ein sanfter Windstoß brachte Marianne in die Realität zurück. Seufzend erhob sie sich, hielt dann aber noch für einen kurzen Moment inne. Der Wind schien für einen Augenblick stärker zu werden. Staub wirbelte in die Höhe, und sogar die gackernden Hühner wurden still. Es war, als würde die Seele sich verabschieden und endgültig gehen.
    »Auf Wiedersehen«, flüsterte Marianne und wandte sich wieder zur Tür, durchschritt schweren Herzens die Küche und ging die Treppe nach oben. Jetzt musste Hedwig geweckt werden.
    *
    Das rostige Friedhofstor quietschte laut, als Marianne es öffnete. Missmutig blickte sie sich um. Es war Mittag, und die Sonne schien unerbittlich auf die schmiedeeisernen Kreuze und Grabsteine. Langsam schritt sie durch die Reihen der Gräber. Einige wurden liebevoll gepflegt, andere waren verwildert, und Brombeerranken und Efeu überwucherten die Grabsteine und -kreuze. Der Friedhof war im hinteren Bereich erweitert worden. Ein großes Loch klaffte in der Mauer, und ein angedeuteter Weg führte auf ein neues Gräberfeld. Dicht an dicht lagen hier die frischen Grabstätten, meist nur mit einfachen Holzkreuzen verziert.
    Marianne ging nicht gern auf den Friedhof, was nichts mit den Toten oder so manchem Geist zu tun hatte. Sie fürchtete sich eher vor den Lebenden. Langsam schritt sie durch das hohe Gras. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, in diesem neuen Teil des Friedhofes einen Weg anzulegen. Zu viele Tote hatte es in der letzten Zeit zu beklagen gegeben. Zwar waren die Zeiten nicht so schlecht wie während der großen Pestwellen, und Massengräber gab es keine, aber Leopold Wiesner, der Friedhofsgräber, den alle nur Poldi nannten, konnte sich über fehlende Arbeit nicht beklagen.
    Marianne blieb vor einem teilweise ausgehobenen Grab stehen. Poldi hielt beim Schaufeln inne und blickte auf. Mürrisch verzog er das Gesicht, womit Marianne gerechnet hatte, denn Poldi konnte sie nicht leiden und machte daraus, wie fast alle in Rosenheim, keinen Hehl. In seiner Gegenwart verspürte sie stets Angst, was gewiss auch mit seinem abstoßenden Äußeren zusammenhing. Poldi war als Kind von einem Hund gebissen worden. Das Tier hatte ihm einen Teil der rechten Wange und ein Auge herausgerissen. Diese Entstellung ließ ihn wie ein Ungeheuer aussehen. Sein verbliebenes Auge wirkte stechend und unnatürlich. Er drehte es oft seltsam hin und her, was die abschreckende Wirkung noch verstärkte. Wegen des Lochs in seiner Wange konnte er nicht richtig lachen und verzog oft nur den Mundwinkel, was sein Gesicht noch hässlicher aussehen ließ.
    Er wischte sich seine schmutzigen Hände an der Hose ab.
    »Was willst du, Mädchen? Habe ich nicht gesagt, du sollst dich auf dem Friedhof nicht blicken lassen, verdammtes Pestkind.« Marianne wich ein Stück zurück. Am liebsten wäre sie fortgelaufen. Sollte Hedwig doch zusehen, wie sie ihre Magd unter die Erde bekam. Eigentlich war es ihre Aufgabe, sich um Irmgards Beerdigung zu kümmern. Allerdings hätte Hedwig
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