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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition)
Autoren: Nicole Steyer
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Gesicht und rubbelte es mit einem Leinentuch trocken. Anschließend musterte sie sich erneut. Die Wangen hatten jetzt ein wenig Farbe bekommen und waren leicht gerötet. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, aus dem sich während der Nacht einige Haare gelöst hatten, die ihr nun wirr ins Gesicht hingen. Sie öffnete den Zopf und bürstete den Staub des letzten Tages heraus.
    »Es sieht hübsch aus.«
    Erschrocken zuckte Marianne zusammen und blickte sich um. Anderl saß aufrecht im Bett und lächelte sie an.
    »So hübsch sind deine Haare.«
    Sie legte den Kopf schräg und spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg.
    »Du bist wach?«, sagte sie ausweichend. »Es ist recht früh, Anderl, schlaf noch ein wenig.«
    Der Junge sah sie prüfend an. Marianne begann, ihren Zopf zu flechten, und wartete geduldig ab, bis er die richtigen Worte gefunden hatte.
    »Ich bin nicht müde«, antwortete er, ließ seinen Kopf aber zurück aufs Kissen sinken.
    »Doch, das bist du.« Marianne band sich ein blaues Kopftuch um, ging zu ihm und sank vor dem Bett in die Hocke. Zärtlich sah sie ihn an und fuhr ihm durch sein wirres Haar.
    »Es war eine laute Nacht, und du bist so spät zu mir gekommen. Schlaf noch ein wenig.«
    Dankbar sah er sie an und kuschelte sich gähnend unter die Decke.
    »Du bist auch müde.«
    Seufzend erhob sich Marianne und schlüpfte in ihre abgetragenen, aber bequemen Schuhe.
    »Ja, das bin ich. Aber wenn ich jetzt nicht gleich in die Küche gehe, dann reißt mir Irmgard den Kopf ab.«
    Prüfend zog sie ihr Kopftuch vor dem Spiegel zurecht und drehte sich dann erneut zu ihm um.
    Doch Anderl hatte die Augen bereits wieder geschlossen. Marianne schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er ihre Antwort gar nicht mehr gehört. Sie öffnete die Tür und trat in den düsteren Flur.
    Die allgegenwärtige Geruchsmischung aus Malz, gebratenem Fleisch und Schweiß hüllte sie ein. Leise schlich Marianne über den knarzenden Dielenboden, vorbei an Hedwigs Kammer, zur Treppe. Ihre Ziehmutter hielt nichts davon, früh aufzustehen. Zumeist erschien sie erst kurz vor dem Mittagsgeschäft in der Gaststube, worauf Marianne und die anderen durchaus verzichten konnten.
    Hedwig stellte das dar, was man sich gemeinhin unter einer Brauereibesitzerin und Wirtin vorstellte. Sie war korpulent, hatte ausladende Hüften und große Brüste. Ihre Haut war weiß wie Schnee und von roten Flecken übersät. Ihr Kinn war fleischig, ihre Oberarme fest und muskulös. Laut und burschikos klang ihr Lachen, und ihr Gang hatte nichts Weibliches an sich. Margit, die abends immer beim Bedienen aushalf und eigentlich nur wegen der Männer kam, verglich sie gern mit dem großen, massiven Geschirrschrank, der hinter der Theke in der Gaststube stand.
    Marianne konnte nicht über Margits Scherze lachen, denn sie hatte Angst vor Hedwig und war stets auf der Hut, wenn sie in ihre Nähe kam. Nicht eine angenehme Eigenschaft verband sie mit dieser Frau, die eigentlich ihre Mutter sein sollte und sie großgezogen hatte. Sie würde niemals auf den Gedanken kommen, sich als ihre Tochter zu fühlen. Sie war die Tochter der Frau mit den hellen blauen Augen und der sanften, singenden Stimme, die es nur noch in ihrer Erinnerung gab.
     
    Marianne blieb verwundert auf dem letzten Treppenabsatz stehen. Normalerweise hörte man Irmgard mit den Töpfen klappern und nahm die unverwechselbaren Gerüche von Holzrauch und Haferbrei wahr, die durch den unteren Flur zogen. Aber heute war es still. Unheimlich still. Die Küchentür war nur angelehnt, und ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Dielenboden. Marianne trat näher heran. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie schob die Küchentür vorsichtig auf. Keiner schlug sie wieder zu, nichts fiel zu Boden, niemand rannte fort oder erschreckte sie. Sie wurde etwas mutiger und blickte in den Raum. Die geräumige Küche war leer. Wie Marianne bereits auf der Treppe vermutet hatte, brannte kein Feuer in dem großen gusseisernen Ofen. Auf dem Boden entdeckte sie Irmgards Korb, gut gefüllt mit Gemüse, das in dem kleinen Garten hinter den Brauereigebäuden wuchs. Also musste sie hier gewesen sein, überlegte Marianne. Die Tür zum Hof stand offen, quietschte ein wenig in den Angeln, und die Sonne schien in den Raum. In ihrem Licht tanzten kleine Staubkörnchen, irgendwo summte eine Biene, das Gackern der Hühner drang an ihr Ohr. Marianne rieb sich fröstelnd über die Arme, obwohl es
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