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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition)
Autoren: Nicole Steyer
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noch getrunken hatte.
    Zurück im Hof, ging sie trotz des nagenden Hungers noch einmal in den Stall, um nach der toten Irmgard zu sehen. Die Leiche lag noch genau dort, wo sie sie abgelegt hatte, ordentlich zugedeckt mit einem grauen Leinentuch. Beruhigt wandte sie sich zum Gehen. Doch dann ließ ein Geräusch sie aufhorchen.
    Zielsicher eilte sie durch den Stall, blieb in der hintersten Ecke stehen und entfernte ein Holzbrett in der Wand, welches als Tür diente. Dahinter befand sich eine enge Nische, gerade groß genug für zwei Menschen. Anderl saß darin und sah Marianne mit weit aufgerissenen Augen an.
    Sie kroch schweigend neben ihn und schob das Brett mit geübtem Griff wieder vor den Eingang.
    »Was ist passiert?« Sie streichelte sanft seinen Arm.
    Anderl schluchzte leise und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
    »Hat sie dich wieder geschlagen?«
    Er nickte.
    Liebevoll zog sie ihn an sich. Hedwig würde nie mit ihm umgehen können. Immer wenn es dem Jungen zu viel wurde, verkroch er sich in der Nische im Stall. Als Kinder hatten sie häufig viele Stunden hier ausgeharrt, wenn Hedwig mal wieder wütend gewesen war.
    »Warum war sie denn böse?«
    Anderl reagierte nicht auf ihre Frage.
    Marianne wiederholte sie. Doch anstatt ihr zu antworten, wechselte er das Thema.
    »Wir müssen für Irmgards Grab Blumen pflücken.«
    Marianne verstand: Er wollte nicht darüber reden.
    »Ja, das machen wir. Wir werden ihr einen großen bunten Strauß pflücken. Vor dem Münchener Tor wachsen Margeriten und Glockenblumen. Gleich morgen gehen wir dorthin.«
    Anderl lehnte seinen Kopf an ihre Schulter.
    »Glaubst du, Irmgard ist jetzt im Himmel?«
    »Bestimmt. Unsere Irmgard war so ein guter Mensch. Gewiss ist sie jetzt bei Gott und guckt auf uns herab.«
    »Mutter wollte nicht, dass ich Blumen pflücke«, sagte Anderl leise.
    Marianne schloss die Augen.
    »Das kann ich mir vorstellen.«
    Anderl hob den Kopf.
    »Sie hat Irmgard nicht gerngehabt, oder?«
    Marianne stützte ihr Kinn auf seinen Kopf.
    »Manchmal frag ich mich, ob sie überhaupt irgendwen gernhat.«
     
    In der darauffolgenden Nacht konnte Marianne nicht schlafen. Durch das winzige Dachfenster schien der Mond auf den Dielenboden, und das Zirpen der Grillen war zu hören. Sie lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, im Bett und starrte an die Decke. In solchen Momenten dachte sie oft an den Hof in Kieling und versuchte sich auszumalen, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn ihre Eltern nicht gestorben wären. Sie schloss die Augen und sah sich selbst in dem Innenhof, an den sie sich noch gut erinnern konnte. Eine Schar Gänse lief schnatternd um sie herum, und Knechte und Mägde gingen ihrem Tagwerk nach. Am geöffneten Küchenfenster stand Alma und winkte ihr fröhlich zu. Marianne öffnete wieder die Augen. Alma, die gute alte Küchenmagd, die für sie wie eine Mutter gewesen war. Sie hatte sie gesucht in jener Nacht, als sie es wagte, ihr Versteck zu verlassen. Sie war vom Lärm geweckt worden und hatte gedacht, Alma wäre zurückgekommen. Doch es war nicht die Magd gewesen, die sie auf dem Hof gesehen hatte. Seltsam verhüllte Gestalten mit Fackeln in den Händen hatten ihr Angst gemacht. Sie schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Erinnerungen loszuwerden, und drehte sich zur Seite. Ihr Blick fiel auf die Truhe unter dem Tisch. Wie lange hatte sie nicht mehr hineingesehen? Sie wusste es nicht. Sie stand auf, zog die Truhe unter dem Tisch hervor und öffnete sie.
    Ganz oben lag ihre alte Puppe Elly und sah sie mit ihren schwarzen Knopfaugen vorwurfsvoll an. Elly bestand aus ein paar alten Strümpfen und Stroh, ihre Haare waren aus brauner Wolle. Sie trug noch immer das blaue Kleid, das Alma ihr genäht hatte. Marianne konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie es ihr gemeinsam angezogen hatten. Lächelnd hob sie die Puppe hoch, drückte sie kurz an sich und legte sie dann neben sich auf den Boden. Unter Elly kam ein Bild ihres Vaters zum Vorschein. Sie hielt es ins Mondlicht, um es besser sehen zu können. Sein Blick war ernst, und er trug eine Uniform, denn er hatte gedient und war für die Kaiserlichen gegen die Schweden gezogen. Wegen einer schweren Verletzung am Bein war er heimgekommen und geblieben. Marianne hatte ihren Vater nur humpelnd gesehen. Aber immerhin war er zurückgekommen und nicht fortgeblieben wie so viele andere. Sie legte das Bild zur Seite und kramte den nächsten ihrer Schätze heraus.
    Es war eine feine Goldkette, an
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