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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition)
Autoren: Nicole Steyer
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antwortete er, ohne sich umzudrehen. »Aber sie werden mich nicht haben wollen.«
    Marianne trat neben Anderl.
    »Warum bist du dir da so sicher?«
    Anderl sah seine Stiefschwester verwirrt an.
    Sie seufzte. Wieder einmal hatte er sie nicht verstanden.
    »Ich kann mich ja mal erkundigen«, sagte sie. »Vielleicht brauchen sie noch einen Schiffsjungen. Du bist kräftig geworden und groß.«
    Schweigend blickte der Junge ans andere Ufer, die Boote verschwanden nach und nach hinter einer Biegung.
    Ein Schatten legte sich auf den Fluss. Marianne blickte auf. Die ersten Wolken schoben sich vor die Sonne. Hedwig würde bestimmt schon ungeduldig auf sie warten.
    »Wir sollten gehen«, schlug Marianne vor. »Mutter ist bestimmt schon wütend. Du kennst sie doch.«
    Anderl sah seine Schwester nachdenklich an und blickte danach wieder aufs Wasser hinaus.
    »Mutter ist immer wütend. Also ist es gleichgültig.«
    Langsam drehte er sich um und trat auf die Straße. Marianne folgte ihm.
    Wie recht er doch hat, dachte sie. Sie wird niemals zufrieden mit ihm sein – oder mit mir.
     
    Später am Abend hing die Schwüle des Tages noch immer über der Stadt, und auf dem Marktplatz drehte der Nachtwächter bereits seine Runden. Doch die Gaststube der Brauerei war noch gut gefüllt.
    Marianne, die beim Bedienen aushalf, war auf dem Weg zur Küche. Durch die geöffnete Hintertür drang ein leichter Luftzug in den düsteren Flur, kühlte ihre schweißnasse Haut und ließ sie kurz erschauern. Seufzend strich sie eine Haarsträhne, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatte, nach hinten und atmete tief durch, genoss für einen Moment den kühlen Hauch des Abends und schloss die Augen. Müde lehnte sie sich an die Wand. Der Tag war anstrengend gewesen und war längst noch nicht vorbei.
    Hedwig hatte keinen Finger gerührt, um den Betrieb am Laufen zu halten. Marianne hatte das Gemüse geerntet, sich um die Pferde und Hühner gekümmert und den Stall ausgemistet. Sie hatte den Boden in der Gaststube gescheuert, Brot gebacken und beim Metzger das bestellte Fleisch abgeholt. Hedwig dagegen hatte wie immer nur Befehle erteilt und Marianne sogar geohrfeigt, als ihr etwas nicht schnell genug gegangen war.
    Hedwig hatte Irmgard nie so gegängelt, vor ihr hatte sogar sie so etwas wie Respekt gehabt.
    Doch Irmgard lag jetzt unter der Erde, am Rande des Friedhofs, abseits der kunstvoll geschmiedeten Kreuze, dort, wo die Armen verscharrt wurden.
    Anderl hatte als Einziger um Irmgard geweint. Er hatte die Magd sehr gemocht. Traurig hatte er eine Weile vor dem Grab gestanden und seine selbst gepflückten Blumen hineingeworfen.
    Marianne selbst konnte nicht weinen. Sie wusste nicht einmal, warum, denn Irmgard hätte ihre Tränen verdient. Die alte Magd hatte sie zwar auch gegängelt und zur Arbeit angetrieben, aber sie hatte sie so angenommen, wie sie war.
     
    Marianne schloss die Augen, drehte ihren Kopf zur geöffneten Tür und sog die nach Regen riechende Luft ein. Wie schön wäre es jetzt, einfach fortzugehen. Einen Tag nur das zu tun, was einem gerade einfiel. Vielleicht auf einer Sommerwiese liegen, irgendwo unter einem schattigen Baum, die nackten Füße im weichen Gras. Dort, wo einem der sanfte, nach Blumen duftende Wind um die Nase wehte und nur die zwitschernden Vögel und summenden Bienen zu hören waren.
    »Marianne!« Sie öffnete erschrocken die Augen. Hedwig stand mit einem Tablett, auf dem sich gebratene Hühnerbeine türmten, vor ihr und sah sie vorwurfsvoll an.
    »Was faulenzt du hier schon wieder herum, dafür füttere ich dich gewiss nicht durch. Beeil dich und bring das Tablett zu Mooshammers Tisch.«
    »Ja, Mutter, sofort. Es tut mir leid. Es ist nur« – Marianne stockte –, »es ist so schrecklich schwül heute.«
    Die Wirtin drückte Marianne das Tablett in die Hand.
    »Habe ich das Wetter gemacht? Das ist keine Entschuldigung für deine Faulenzereien. Ganz im Gegenteil. Ich habe deine ewigen Ausreden satt. Wärst du eine normale Dienstmagd, schon längst hätte ich dich vor die Tür gesetzt. Aber diese Flausen werde ich dir austreiben, du wirst schon sehen.«
    Drohend hob die korpulente Frau die Hand. Marianne zog den Kopf ein und presste die Augen zusammen. Doch nichts geschah. Verächtlich schnaubend wandte sich Hedwig von ihrer Stieftochter ab und ging zurück in die Küche.
    Vor Wut kochend, schob sich Marianne durch die gut gefüllte Gaststube und schlug nach der einen oder anderen Hand, die ihr das
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