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Das peinlichste Jahr meines Lebens

Das peinlichste Jahr meines Lebens

Titel: Das peinlichste Jahr meines Lebens
Autoren: Mark Lowery
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habe.
    »Vorwärts!«, rufe ich und fange an zu rennen.
    »Du bist wohl verrückt!«, ruft Lucy, die auf und ab hüpft, während ich mit dem Esel über den Sand in das ruhige, kalte seichte Wasser am Pier laufe.
    »Hier ist es perfekt«, sagt sie.
    »Perfekt wofür?«, frage ich und bleibe stehen.
    Lucy antwortet nicht. Sie schwingt das Bein über die Flanke des Esels und bindet ihn am Holzgerüst des Piers an.
    Ich drehe mich zu dem Eselvermieter um, kann aber nicht annähernd so weit sehen. Die Luft ist kalt und salzig.
    »Irgendwann müssen wir unsere Probleme überwinden«, sagt sie. »Ich muss lernen, im Wasser Spaß zu haben. Und du musst …«
    Sie zeigt ein schelmisches Lächeln.
    »Ich muss was?«, frage ich.
    »Du darfst nicht gucken«, sagt sie.
    Ich drehe mich um. Ich höre Kleidungsstücke zu Boden fallen und Füße auf den nassen Sand platschen.
    Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, wie sie ins Meer läuft und ringsum Wasser aufspritzt. Bei ihrem Hechtsprung in die Wellen kann ich nicht anders als zu bemerken, dass sie einen Bikini trägt. Einen Bikini! Das ist keine geeignete Kleidung für eine erfolgreiche Schwimmerin. Es dauert einen Moment, bis mir wieder einfällt, dass wir hier sind, um Spaß zu haben, nicht um zu trainieren.
    »Uuuh-uuh-ah-ah!«, ruft sie lachend, als sie aus dem trüben grauen Wasser an die Oberfläche kommt. »Es ist eiskalt.«
    Sie taucht den Kopf wieder ein und strampelt mit den Beinen in der Luft, bevor sie erneut auftaucht. »Kommst du nicht rein?«
    Ich blicke mich um. Bei dem Nebel ist der Esel das einzige Lebewesen, das mich sehen kann. Und der legt sich gerade hin, um sich auszuruhen.
    »Okay«, sage ich, »aber nicht gucken.«
    »Das würde mir nicht im Traum einfallen«, erwidert Lucy, dreht sich um und taucht unter.
    »Okay, dann mal los«, sage ich. Meine Badeshorts trage ich unter der Kleidung. Ich streife Hose und T-Shirt ab, falte alles ordentlich zusammen und stecke es in meinen Rucksack. Dann ziehe ich die Schuhe aus und lege in einen von beiden meine Armbanduhr. Ohne nachzudenken laufe ich ins Wasser.
    Zuerst ist es unsäglich kalt, doch schon bald haben wir uns daran gewöhnt. Wir planschen und springen und tauchen und strampeln, wir machen Handstand und spritzen Wasser und lachen, bis uns der Bauch wehtut.
    Nach wer weiß wie viel Zeit fragt Lucy plötzlich: »Bist du bereit, Mike?«
    »Bereit wofür?«
    Sie lächelt immer noch. »Bereit, deinen Problemen ins Auge zu blicken.«
    »Das tu ich doch schon.«
    Lucy hört auf zu lächeln. Plötzlich spüre ich, wie mein Körper in den Wellen unwillkürlich schwankt.
    »Nein, Mike«, sagt sie. »Im Moment sind wir mit meinen Problemen beschäftigt. Ich musste im Wasser Spaß haben. Du musstest dich deiner Angst vor Eseln stellen …«
    »Und das hab ich auch getan.«
    »Ja, und jetzt musst du dich deiner anderen Angst stellen.« Sie nickt mir vielsagend zu.
    Erst weiß ich gar nicht, was sie meint. Dann wird es mir ganz langsam klar.
    Das Wasser wird wieder eiskalt. Ich sehe den Esel an, der seelenruhig am wuchtigen Holzgerüst des Piers leckt. Etwas streift meinen Fuß, und ich strample es weg. In der Ferne höre ich eine Polizeisirene. Plötzlich wird mir bewusst, wie groß das Meer ist.
    »Das kann ich nicht«, sage ich schließlich. »Das ist ekelhaft.«
    »Nein, Michael, du musst.«
    »Warum?«, frage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich bin glücklich. Ich amüsiere mich. Herrgott nochmal, ich hab einen verdammten Esel gestreichelt.«
    Lucy schüttelt langsam den Kopf. »Das reicht nicht, Mike. Du musst loslassen. Wenn dir etwas so viel Angst macht, dass es dein Leben zerstört, dann musst du dem direkt ins Auge blicken. Sonst wirst du dich ewig damit rumschlagen.«
    »Wie soll es helfen … wenn ich das tue?«
    »Es wird dir klarmachen, dass du größer bist als das Problem. Du bist stärker. Du hast das Kommando. Nicht das Problem hat hier die Kontrolle, sondern du.«
    »Da bin ich anderer Meinung. Du klingst wie Chas.«
    Lucy grinst. »Ja, und zwar fetzig, Alter. Du musst auf der Woge der Angst surfen, Mikey.«
    »Aber ich kann nicht«, sage ich, ohne zu lächeln, obwohl es sehr witzig ist, wie sie ihn imitiert. »Was, wenn es jemand sieht? Was, wenn du es siehst?«
    »Ich gucke nicht«, verspricht sie. »Und überhaupt: A) Es ist niemand am Strand; B) es ist neblig und C) das Wasser ist so trüb, dass man höchstens zwei Zentimeter tief sehen kann.«
    »Aber …«
    »Mike, du musst es
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