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Das peinlichste Jahr meines Lebens

Das peinlichste Jahr meines Lebens

Titel: Das peinlichste Jahr meines Lebens
Autoren: Mark Lowery
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[1]
    Ich fuhr den Laptop hoch und begann zu tippen. Schließlich kommt man nicht jeden Tag in den Genuss, einen fremden Laptop benutzen zu dürfen.
    Privatsphäre
    O nein! Miss O’Malley hat mir gerade über die Schulter geschaut und gelesen. Obwohl der Raum ziemlich klein ist, habe ich nicht gemerkt, wie sie um den Schreibtisch herumgekommen ist. Sie hat alles gelesen, auch das Zeug über ihre großen Hände. Erst habe ich gedacht, sie wird wütend, aber wisst ihr, was sie gemacht hat? Sie hat gelächelt! Und dann hat sie gesagt: »Oh, gut. Sehr gut. Schreib
genau
auf, was du empfindest. Und auch sehr systematisch! Erstaunlich, dass du Listen und Fußnoten erstellst. Listen sind eine erstklassige Idee, Michael. Die lösen Gefühlsstaus und Denkblockaden.«
    Auch ich mag Listen. Ich könnte zwanzig Gründe aufführen, warum, aber das würde zu weit führen. Vermutlich habe ich es einfach lieber, dass alles seine Ordnung hat. Sogar die Kleidungsstücke in meinem Schrank sind alphabetisch geordnet (von einem sieben Jahre alten Action Man-T-Shirt bis zu einem Zebrapulli, den mir meine Mum vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hat und den ich noch nie getragen habe).
    Egal. Die Stunde ist fast vorbei. Hätte schlimmer kommen können. Wenn sie nichts dagegen hat, dass ich über sie schreibe, dann heißt das, dass ich wirklich schreiben kann, was mir gefällt. Ich werde die ganze Geschichte aufschreiben. Vielleicht habe ich schon alles vermasselt, weil ich eine Liste mit den besten Punkten erstellt habe (oder den schlimmsten, je nachdem, wie man das Ganze betrachtet). Aber das ist unwichtig. Die Liste gibt nicht annähernd wieder, was passiert ist.

Umgang mit Gefühlen, 2 . Stunde
    Das ist der zweite Tag von Umgang mit Gefühlen. Dass ich heute hier bin, gefällt mir in doppelter Hinsicht.
    Da Dienstag ist, verpasse ich den Kunstunterricht bei Miss Skinner. Miss Skinner schielt und hat einen Schnurrbart. Das sind aber nicht die Gründe, warum ich sie nicht leiden kann. Das sind bloß Tatsachen. Ich bin nicht gern in ihrem Unterricht, weil ich mich nach allem, was passiert ist, dort unwohl fühle. Die Schule fand es besser, dass ich ihren Unterricht nicht mehr besuche, weil sie mit allem in Verbindung steht. Vermutlich auch deshalb, weil jeder weiß, dass Kunst sinnlos ist, und weil ich darin eine absolute Niete bin. Ich habe mal ein Auto aus Ton geformt. Miss Skinner hat gesagt, es sei eine ausgezeichnete Kuh. Eine
Kuh
. Sie hat sogar die detaillierte Ausführung der Euter gelobt. Ich weiß nicht, ob es an ihrem Schielen lag oder daran, dass ich in Kunst eine Niete bin. Wahrscheinlich von beidem ein bisschen.
Miss O’Malley. Sie ist nett. Heute Nachmittag hat sie mir zu Beginn der Stunde einen Keks und ein Glas Wasser mit Orangensirup spendiert. Der Sirup ist eigentlich für die Schüler, die an heißen Tagen in Ohnmacht fallen. Sie hielt das Glas in ihrer riesigen Hand, goss den Sirup hinein und maß alles sorgfältig ab. »Nur einen Fingerbreit«, murmelte sie vor sich hin, aber ich schwöre, das Glas war etwa halbvoll, bevor sie Wasser dazugab.
    Als ich mich setzte, stellte mir Miss O’Malley noch ein paar solcher Fragen wie gestern. »Gibt es irgendwas, über das du heute gern sprechen würdest?«, »Wie läuft’s zu Hause?«, »Hattest du in letzter Zeit Alpträume?« usw [2] . Ich brummte zu jeder Frage irgendwas, zuckte mit den Schultern und konzentrierte mich auf meinen Mürbekeks, dessen Haltbarkeit ungefähr 1983 abgelaufen sein dürfte. Ich spülte ihn mit einem Schluck Saft runter. Der war so konzentriert, dass ich das Gefühl hatte, meine Zähne würden weggeätzt.
    Miss O’Malley sagte mit einem Nicken »Gut, gut« und holte den Laptop aus dem Safe, in dem sie die Spritzen für zuckerkranke Schüler aufbewahrt. Vermutlich hatte sie ihn dort eingeschlossen, um mir zu zeigen, dass niemand das von mir Geschriebene lesen konnte. Das gefiel mir. Dann beschäftigte sie sich mit irgendetwas in ihrem Büro und sagte, ich solle weiter so gut arbeiten und alles herausfließen lassen.
    Dann mal los. Das ist meine Geschichte.
    Schwimmen
    Ich bin Schwimmer.
    Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich bin bloß jemand, der gern schwimmt.
    Eigentlich stimmt auch das nicht. Ich kann Schwimmen nicht ausstehen. Von meinem sechsten Lebensjahr an bis vor einer Woche hat mich meine Mutter gezwungen, schwimmen zu gehen. Das war total gegen meinen Willen.
    Und in den letzten achteinhalb Jahren stand sie jede einzelne Woche auf der
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