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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Autoren: Patrick Süskind
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sich in jedem Fall vor Berührung. Sie hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersüchtig oder futterneidisch auf ihn. Für solche Gefühle hätte es im Hause Gaillard nicht den geringsten Anlass gegeben. Es stärte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.

— 5 —
     
    Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts Angsteinflößendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders groß, nicht stark, zwar hässlich, aber nicht so extrem hässlich, dass man vor ihm hätte erschrecken müssen. Er war nicht aggressiv, nicht link, nicht hinterhältig, er provozierte nicht. Er hielt sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als fürchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort «Fische», das in einem Moment plötzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als von ferne ein Fischverkäufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware ausschrie. Die nächsten Wärter, derer er sich entäußerte, waren «Pelargonie», «Ziegenstall», «Wirsing» und «Jacqueslorreur», letzteres der Name eines Gärtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix, der bei Madame Gaillard gelegentlich gröbere und gröbste Arbeiten verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwärtern, den Adjektiven und Füllwörtern hatte er es weniger. Bis auf «ja» und «nein» - die er übrigens sehr spät zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwärter, ja eigentlich nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich, und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen unversehens geruchlich überwältigten.
    In der Märzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der Wärme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort «Holz» aussprach. Er hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehört. Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug vorgekommen, als dass er sich die Mühe gegeben hätte, seinen Namen auszusprechen. Das geschah erst an jenem Märztag, als er auf dem Stapel saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Südseite des Schuppens von Madame Gaillard unter einem überhängenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig süß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wärme bröseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Stapel, den Rücken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Er sah nichts, er hörte und spürte nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank darin, imprägnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst Holz, wie eine hölzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer halben Stunde erst, das Wort «Holz» hervorwürgte. Als sei er angefüllt mit Holz bis über beide Ohren, als stände ihm das Holz schon bis zum Hals, als habe er den Bauch, den Schlund, die Nase übervoll von Holz, so kotzte er das Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die überwältigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte wie auf hölzernen Beinen davon. Noch Tage später war er von dem intensiven Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu kräftig in ihm aufstieg, beschwörend «Holz, Holz» vor sich hin.
    So lernte er sprechen. Mit Wörtern, die keinen riechenden Gegenstand bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und moralischer Natur, hatte er die größten Schwierigkeiten. Er konnte sie nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. - was damit ausgedrückt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.
    Andrerseits hätte die gängige Sprache schon bald nicht mehr ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz,
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