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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Autoren: Patrick Süskind
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sondern Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz, altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrösel - und roch sie als so deutlich unterschiedene Gegenstände, wie andre Leute sie nicht mit Augen hätten unterscheiden können. Ähnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes weiße Getränk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zöglingen verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass ein von hundert Einzeldüften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des Feuers nur eben jenen einen Namen «Rauch» besaß... dass Erde, Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von anderem Geruch erfüllt und damit von andrer Identität beseelt waren, dennoch nur mit jenen drei plumpen Wärtern bezeichnet sein sollten - all diese grotesken Missverhältnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben Grenouille am Sinn der Sprache überhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt erforderlich machte.
    Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollständig erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der nördlichen Rue de Charonné keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum, Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest im Gedächtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische Eigengeräsche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfügung, so deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie wieder roch, sondern dass er sie tatsächlich roch, wenn er sich ihrer wieder erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Gerüche erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als besäße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Gerüchen, das ihn befähigte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchssätze zu bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen mühsam eingetrichterten Wörtern die ersten, zur Beschreibung der Welt höchst unzulänglichen konventionellen Sätze stammelten. Am ehesten war seine Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Töne abgelauscht hatte und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem Unterschied freilich, dass das Alphabet der Gerüche ungleich größer und differenzierter war als das der Töne, und mit dem Unterschied ferner, dass sich die schöpferische Tätigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur von ihm selbst.
    Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten streifte er allein durch den nördlichen Faubourg Saint-Antoine, durch Gemüsegärten, Weinfelder, über Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach Hause zurück, blieb tagelang verschollen. Die fällige Züchtigung mit dem Stock ertrug er ohne Schmerzensäußerung. Hausarrest, Essensentzug, Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht ändern. Ein einundhalbjähriger sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn für schwachsinnig.
    Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fähigkeiten und Eigenheiten besaß, die sehr ungewöhnlich, um nicht zu sagen übernatürlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit und der Nacht völlig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun, ohne zu stolpern oder etwas
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