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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Autoren: Patrick Süskind
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umzustoßen. Noch merkwürdiger freilich erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte, durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte Wände und geschlossene Türen hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche Zöglinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war. Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst nicht mehr wiederfand (sie änderte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er nämlich den Besuch einer Person lange vor ihrem Eintreffen ankündigte oder das Nahen eines Gewitters unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste Wölkchen am Himmel stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern mit seiner immer schärfer und präziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wände hindurch und über eine Entfernung von mehreren Straßenzügen hinweg - darauf wäre Madame Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken ihren Olfaktorius unbeschädigt gelassen hätte. Sie war davon überzeugt, der Knabe müsse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unerträglich war ihr der Gedanke, mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgfältig verstecktes Geld durch Wände und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese entsetzliche Fähigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit - Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine jährlichen Zahlungen ohne Angabe von Gründen einstellte. Madame mahnte nicht nach. Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das fällige Geld dann immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging mit ihm in die Stadt.
    In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskräften hatte - nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis. Es gab nämlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender Tierhäute, das Mischen von giftigen Gerb-und Färbebrühen, das Ausbringen ätzender Lohen -, die so lebensgefährlich waren, dass ein verantwortungsbewusster Meister nach Möglichkeit nicht seine gelernten Hilfskräfte dafür verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr fragte. Natürlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine überlebenschance besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich darüber Gedanken zu machen. Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhältnis war beendet. Was mit dem Zögling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die übergabe des Knaben schriftlich bestätigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von fünfzehn Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de Charonne. Sie verspürte nicht den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, für das niemand zahlte, wäre ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder sogar zu ihren eigenen Lasten und hätte womöglich die Zukunft der anderen Kinder gefährdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eigenen, abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch wünschte.
    Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und ihr auch später nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar Sätzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon innerlich gestorben, wurde zu ihrem Unglück sehr, sehr alt. Anno 1782, mit fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in eine Rente ein, saß in ihrem Häuschen und wartete auf den Tod. Der Tod kam aber nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt
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