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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Autoren: Patrick Süskind
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hätte rechnen können und was es im Lande noch nie gegeben hatte, nämlich eine Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sämtlicher gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhältnisse. Zunächst hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persönliches Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es
    mit einem Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren müssen, sei enteignet und sein Besitz an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen für Madame Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin pünktlich die Rente. Aber dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Münze, sondern in Form von kleinen bedruckten Papierblättchen erhielt, und das war der Anfang ihres materiellen Endes.
    Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus, das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen, zu lächerlich geringem Preis, denn es gab plötzlich außer ihr Tausende von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder bekam sie als Gegenwert nur diese blöden Blättchen, und wieder waren sie nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in mühevoller säkularer Arbeit zusammengescharrtes Vermögen verloren und hauste in einer winzigen möblierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit zwanzigjähriger Verspätung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen bevölkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein Gemeinschaftsbett zu fünf anderen alten wildfremden Weibern, Körperdicht Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller Öffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genäht, um vier Uhr früh nebst fünfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und unter dem dünnen Gebimmel eines Glückchens zum neubegründeten Friedhof von Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von ungelöschtem Kalk.
    Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie hätte womöglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.



— 6 —
     
    Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der geringsten Unbotmäßigkeit zu Tode zu
    prügeln. Sein Leben galt gerade noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch aus der Nützlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu machen. Von einem Tag zum ändern verkapselte er wieder die ganze Energie seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu überdauern: zäh, genügsam, unauffällig, das Licht der Lebenshoffnung auf kleinster, aber wohlbehüteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an Fügsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerätschaften aufbewahrt wurden und eingesalzne Rohhäute hingen. Hier schlief er auf dem blanken gestampften Erdboden. Tagsüber arbeitete er, solange es hell war, im Winter acht, im Sommer vierzehn, fünfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die bestialisch stinkenden Häute, wässerte, enthaarte, kalkte, ätzte, walkte sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben, stieg hinab in die von beißendem Dunst erfüllten Lohgruben, schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Häute und Rinden übereinander, streute zerquetschte Galläpfel aus,
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