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Das Niebelungenlied

Das Niebelungenlied

Titel: Das Niebelungenlied
Autoren: Manfred Bierwisch
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vergessen; man mußte nicht mehr immer an die Unheilbaren denken. Alle waren voller Vorfreude auf die Genüsse der Bewirtung, jedermann war in überschwenglicher Stimmung, die sich über ganz Burgund ausbreitete. An einem Pfingstmorgen sah man dann die fünftausend oder mehr Krieger festlich gekleidet hervortreten zum Fest. Die fröhliche Stimmung wuchs allenthalben um die Wette.
    Gunther war aufmerksam genug, daß er recht gut bemerkt hatte, wie herzlich der Held aus den Niederlanden seiner Schwester ergeben war, obwohl er die noch nie gesehen hatte, der man so große Schönheit vor allen Mädchen nachsagte. Nun sagte Ortwîn von Metz zum König: »Wollt Ihr bei der Festlichkeit Euer Ansehen ohne Einschränkung zeigen, so solltet Ihr die Frauen hinzubitten, die diesen Hof schmücken. Denn was ist das Glück des Mannes und seine Freude, wenn nicht ein schönes Mädchen,eine stolze Frau? Laßt die Gäste Eure Schwester sehen.« Der Rat wurde manchem Ritter zuliebe gegeben. »Das will ich gern tun«, sagte der König, und alle, die davon hörten, freuten sich hierüber. Er ließ Frau Uote und ihre Tochter bitten, mit ihrem Gefolge zu Hofe zu kommen. Da wurden die kostbaren Kleider aus den Schränken und Tüchern genommen, die Bänder und die Armringe, mit denen die Mädchen sich eifrig schmückten. Viele junge Ritter machten sich Hoffnungen, sie würden an diesem Tage den Frauen wohlgefällig anzusehen sein, und sie hätten dafür kein Königreich eingetauscht – so gern wollten sie die Damen einmal von Angesicht sehen, die ihnen nie vor Augen gekommen waren. Der König bestellte seiner Schwester zum Ehrengefolge hundert seiner Krieger und Verwandten, die sie mit dem Schwert in der Hand begleiten sollten; dies war das Hofgesinde von Burgund. Mit ihnen sah man die Königin Uote kommen, die wohl hundert Frauen in prächtigen Kleidern zu ihrer Gesellschaft gewählt hatte. Auch ihrer Tochter folgten zahlreiche schön gekleidete Mädchen. Als sie alle die Gemächer verließen, entstand unter den Rittern ein großes Gedränge, die es kaum erwarten konnten, die edle Jungfrau zu erblicken.
    Nun trat sie hervor, wie das Morgenrot aus den trüben Wolken dringt, und der sie so lange im Herzen getragen hatte, sah sie nun stolz und lieblich stehen und vergaß die vergangene Unruhe. Ihr Kleid strahlte von Edelsteinen, ihr Gesicht leuchtete wie ein Blume. Selbst wenn einer es gewollt hätte, so hätte er doch nicht behaupten können, daß er eine Schönere in der Welt je gesehen hätte. Wie der lichte Mond heller als alle Sterne leuchtet, wenn sein Schein durch die Wolken bricht, so stand sie vor den Frauen des Hofes; und dies erhöhte die freudige Stimmung der Ritter. Die stattlichen Kämmerer gingen zwar vor ihr her, aber die begeistertenRitter konnten doch nicht anders als dahin drängen, wo sie das Mädchen sehen konnten. Sîfrit war glücklich und betrübt zugleich. Er dachte bei sich: ›Wie sollte es möglich sein, daß ich dich lieben darf? Das ist eine törichte Hoffnung. Soll ich dich aber meiden, so wäre ich lieber tot.‹ Bald stieg ihm das Blut ins Gesicht bei diesen Gedanken, dann erbleichte er wieder. Er stand so herrlich und liebenswert da, als habe die Kunst eines großen Meisters ihn auf kostbares Pergament gezeichnet, und man sagte denn auch von ihm, nie habe man einen so schönen Helden zu Gesicht bekommen. Die Begleiter der Frauen baten unablässig, den Weg frei zu machen, und die Ritter gehorchten ihnen. Ihre Herzen schlugen hoch und freudig. Manche schöne Frau sah man mit vollem Anstand auftreten. Da sagte Gêrnôt: »Lieber Bruder, Ihr solltet vor allen Rittern dem ein Gleiches tun, der Euch so bereitwillig zu Gefallen war: Das ist mein bester Rat. Laßt Sîfrit vor unsere Schwester treten, damit sie ihn begrüße. Davon werden wir immer Nutzen haben. Sie soll ihm als dem ersten Ritter ihren Gruß erweisen. Damit haben wir ihn für uns gewonnen.« Da suchten die Angehörigen des Königs Sîfrit auf und sagten: »Der König gewährt Euch die Gunst, vor ihm und den Frauen zu erscheinen. Seine Schwester soll Euch den Gruß erweisen, um Euer Ansehen zu mehren.« Sîfrit war außerordentlich stolz und froh, daß er Frau Uotes Tochter sehen sollte. Sie grüßte ihn höflich nach der Sitte. Als er vor ihr stand, errötete er. Das schöne Mädchen sagte: »Seid willkommen, Herr Sîfrit, edler Ritter«, und der Gruß machte ihn glücklich. Er verbeugte sich tief vor ihr, sie nahm ihn bei der Hand. Wie aufrecht er
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