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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele
Autoren: Ralf Isau
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Übliche, wenn man sich auf phantastischem Terrain bewegte.
    Aber dann entdeckte sie etwas wirklich Ungewöhnliches. Der Gegenstand fiel ihr sofort ins Auge. Er passte nicht zur Umgebung. Stella konnte nicht sagen, wie lange sie nun schon die verschiedenen Tunnel und Höhlenabschnitte erkundet hatte. Aber so etwas war ihr bisher noch nicht aufgefallen.
    Vorsichtig bewegte sie sich näher an das rundliche Objekt heran. Längst hatte sie die Maus zur Seite geschoben und zum Joystick gegriffen. Ähnlich dem Steuerknüppel eines Düsenjets konnte man sich, wenn man ihn geschickt handhabte, in alle Richtungen drehen und wenden, die Welt des Kagee, wenn nötig, sogar auf den Kopf stellen… Im Moment ging es zielstrebig geradeaus.
    Als sie an den riesigen Gegenstand bis auf vielleicht zehn Schritte herangekommen war, blieb sie stehen. Das runde Ding erinnerte sie an einen großen Findling, dessen Oberfläche mit zahlreichen Flecken überzogen war. Vielleicht Moos. Mehr konnte man im herrschenden Dämmerlicht nicht erkennen. Außerdem war es halb von einem schroffen Felsen verdeckt. Stella musste auf etwas Bedeutendes gestoßen sein, das sagte ihr der Instinkt der erfahrenen Cybernautin.
    Wachsam suchten ihre Augen noch einmal die Umgebung ab. Noch immer hatte sie nichts Schleimiges angesprungen, keine Pfeile waren aus unsichtbaren Öffnungen auf sie zugeschossen und auch kein siedender Ölsee hatte sich plötzlich unter ihren Füßen gebildet. Stella konnte es also wagen, sich dem Gegenstand weiter zu nähern.
    Während sie langsam den Felsbrocken umrundete, wurde ihr mit einem Mal klar, was sie da vor sich hatte. Ein Ei! Nicht weiß oder braun wie ein Hühnerei, sondern, wie sich jetzt aus der Nähe zeigte, ein graubraunes Riesending, das mit einem blassgrünen Netz überzogen war. Stella hatte eine Idee…
    Schnell schob sie den Joystick zur Seite, griff nach dem VR-Handschuh und verband ihn mit dem PC. Mit diesem Virtual Reality Glove konnte sie Gegenstände, die nur im Cyberspace existierten, berühren, ertasten und sogar manipulieren – vorausgesetzt, der Spieleprogrammierer hatte beim Entwurf seiner Software auch den Einsatz dieser mit Kabeln und Sensoren voll gestopften Fingerlinge berücksichtigt.
    Es funktionierte! Stella lächelte anerkennend. Salomon hatte wirklich etwas auf dem Kasten. Sie konnte die Oberfläche des Eies nun tatsächlich erfühlen. Das Kagee übermittelte Impulse an den Datenhandschuh, die jener in spürbare Oberflächenveränderungen übersetzte. Umgekehrt konnte Stella nun auch mit dem Handschuh navigieren: Wenn sie mit dem Finger nach links zeigte, bewegte sie sich nach links, wenn sie eine Faust machte, blieb sie abrupt stehen, und wenn sie nach einem Gegenstand griff, dann konnte sie ihn auch festhalten.
    Das Ei hatte eine zwar unebene, aber nicht wirklich raue Oberfläche. Mit den Fingern über die Schale einer um das Hundertfache vergrößerten Orange zu fahren musste sich in etwa ebenso anfühlen. Was mochte sich wohl in dieser gepanzerten Kinderstube befinden, so groß wie ein Kleintransporter? Vielleicht ein Pteranodon oder irgendein anderer Flugsaurier? Oder ein riesiges Entenküken? Abenteuerspiele nutzten oft das Element der Irreführung. Man wurde einfach auf eine falsche Fährte gelockt, weg vom Hauptweg. Aber was war eigentlich das Spielziel des Kagee? Bisher hatte Stella sich so sehr von der realistischen Darstellung der fremden Welt bezaubern lassen, dass ihr die Frage nach dem Sinn des Ganzen überhaupt nicht gekommen war.
    Sie lachte unvermittelt. Salomon saß dauernd der Schalk im Nacken. Seine Souveränität in wissenschaftlichen Fragen nutzte er nicht selten, um aufgeblasene Möchtegernexperten an der Nase herumzuführen, ihr Halbwissen zu entlarven. Nein, je länger Stella über ihren Vater nachdachte, umso überzeugter war sie, dass sich in diesem Ei eben kein Fleisch fressendes Monstrum befand, das nur darauf wartete, ausgebrütet zu werden, um sich dann auf den Spieler zu stürzen. So einfach und banal konnte es nicht sein.
    Und doch – das war wohl ihre nächste Aufgabe: Sie musste das Ei ausbrüten. Aber wie? Stella lehnte sich nachdenklich zurück, hob den Teller mit dem zusammengebrochenen Sandwichturm vor das Kinn und schob einige der Trümmer in ihren Mund. Ein dicker Majonäsetropfen stahl sich über den Tellerrand und stürzte in die Tiefe, mitten auf ihr weißes T-Shirt. Sie achtete nicht darauf, denn in diesem Augenblick war ihr die Erleuchtung
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