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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele
Autoren: Ralf Isau
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wirklich nicht gut Kirschen essen.
    Stella lächelte einen Moment, als sie in ihrer Mail zwei Smileys mehr als in der von Tim zählte. Im Internet waren diese kleinen Zeichenkombinationen gang und gäbe, die – wenn man den Kopf etwas zur Seite neigte – zu Gesichtern wurden. Durch einen Smiley konnte man auch in einer geschriebenen Mitteilung Gefühle ausdrücken, ein Lächeln, eine Träne oder auch einen Kuss abbilden. Wenn man so wollte, waren die Smileys, zusammen mit einigen anderen Sonderzeichen, so etwas wie die Neuauflage der alten ägyptischen Bildsymbole im Cyberspace.
    Tim hatte die Netikette – die Konventionen und Umgangsformen in der virtuellen Welt des Internet – noch nicht in derselben Weise verinnerlicht wie Stella, für die das Surfen durch das World Wide Web so selbstverständlich war wie die Fahrt in der U-Bahn. Tim kannte bisher nur wenige Smileys, wusste vielleicht auch, dass man ein stark zu betonendes Wort in Sternchensymbole einzuschließen hatte, aber in einem echten Chat würden ihn alle sofort als Neuling erkennen.
    Stella leckte sich den kleinen Finger ab. Er war beim Verschieben der Maus versehentlich in die Majonäse geraten. Tims E-Mail war vergessen: In ihrer Hand drehte sich wieder die magnetooptische Disk, der Datenträger aus dem Chaos. Sie zögerte. Sollte sie das Kagee -Spiel wirklich ausprobieren? Vater könnte es als Vertrauensbruch ansehen…
    Ach was! Stella atmete hörbar aus. Sie nahm ihm ja nichts weg. Und außerdem war er es doch, der ständig große Versprechungen machte und nie sein Wort hielt. Sie hätten längst zusammen in der Pizzeria sitzen können, aber er hatte sich wieder einmal aus dem Staub gemacht – ziemlich fluchtartig sogar. Was blieb ihr da anderes übrig, als sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern? Mit sechzehn war man ja wohl auch alt genug dafür. Vor ein paar Stunden, während dieser einigermaßen unerquicklichen Auseinandersetzung mit Herrn Leibold, dem Mathelehrer, hatte sie auch allein zurechtkommen müssen. Jetzt befand sie sich wirklich nicht in der Stimmung für eine weitere Standpauke – und wenn die Vorhaltungen auch nur von ihrem Gewissen kamen.
    Heftiger als nötig schob sie die Disk in das dafür vorgesehene Laufwerk am PC-Gehäuse. Mit gezielten Mausklicks und Tastatureingaben suchte sie den Inhalt des Speichermediums ab. Noch bevor sie in die Schule gekommen war, hatte sie schon mit dem Computer umgehen können. Stella empfand schon lange kein ehrfürchtiges Prickeln mehr, wenn der PC genau das tat, was sie von ihm verlangte, eher hin und wieder mitfühlende Anteilnahme, wenn dieser Hochgeschwindigkeitsidiot seinen Dienst quittierte, weil sie wieder einmal bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gegangen war. Doch nun lief alles glatt. Stella wurde schon nach kurzer Zeit fündig.
    Sie entdeckte ein Verzeichnis mit dem Namen » Kagee «. Darin befand sich ein Programm namens »Setup«. Nach einem Doppelklick, also dem zweimaligen Antippen der Maustaste in kurzer Folge, erschien am Bildschirm ein Dialogfeld mit der für Computerspiele gewohnt überschwänglichen Begrüßung: »Willkommen zur Installation von Kagee, dem Netz der Schattenspiele.«
    Schnell überflogen ihre Augen den weiteren Text in dem rechteckigen Rahmen, den das Installationsprogramm auf den Bildschirm gezogen hatte. Die Anweisungen waren klar und unmissverständlich. Stellas Mauszeiger huschte über den Bildschirm, klickte auf einige Knöpfe, wählte die ein oder andere Option aus. Dann wurde die beruhigende Nachricht angezeigt: »Setup hat Ihr Kagee erfolgreich installiert. Um das Netz der Schattenspiele zu nutzen, müssen Sie Ihren Computer neu starten.«
    Stella folgte auch dieser Angabe. Gleich darauf wurde der Monitor schwarz. Der PC piepte. Dann erschienen verschiedene, zumeist englischsprachige Hinweise. Sie hätte jede einzelne dieser Meldungen im Schlaf hersagen können. Durch das Booten – so nannte man diesen Vorgang – wurden alle Programme in den Computer geladen, die zur Steuerung seiner Grundfunktionen nötig waren. Anschließend konnte man dann nach Belieben zusätzliche Programme starten.
    Während des Bootens erinnerte sich Stella an das Wenige, was ihr Vater über sein neues Spiel verraten hatte. Vor einigen Jahren war er von einem Kongress aus Tokio zurückgekehrt. Dort, in Japan, hatte er dieses Wort aufgeschnappt: Kagee. Übersetzt bedeutete es so viel wie »Schattenspiel« oder besser »Schattenbild«. Wenn man mit den
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